Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Mittwoch, den 28. März 1827

Ich brachte Goethen das Buch von Hinrichs zurück, das ich indes eifrig gelesen. Auch hatte ich sämtliche Stücke des Sophokles abermals durchgenommen, um im vollkommenen Besitz des Gegenstandes zu sein.

»Nun,« sagte Goethe, »wie haben Sie ihn gefunden? Nicht wahr, er geht den Dingen zu Leibe.«

»Ganz wunderlich«, sagte ich, »geht es mir mit diesem Buche. Es hat keins so viele Gedanken in mir angeregt als dieses, und doch bin ich mit keinem so oft in Widerspruch geraten als grade mit diesem.«

»Das ists eben!« sagte Goethe. – »Das Gleiche läßt uns in Ruhe; aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht.«

»Seine Intentionen«, sagte ich, »sind mir im hohen Grade respektabel erschienen; auch haftet er keineswegs an der Oberfläche der Dinge. Allein er verliert sich oft so sehr im Feinen und Innerlichen der Verhältnisse, und zwar auf so subjektive Weise, daß er darüber die wahre Anschauung des Gegenstandes im einzelnen wie die Übersicht des Ganzen verliert und man in den Fall kommt, sich und den Gegenständen Gewalt antun zu müssen, um so zu denken wie er. Auch ist es mir oft vorgekommen, als wären meine Organe zu grob, um die ungewöhnliche Subtilität seiner Unterscheidungen aufzufassen.«

»Wären Sie philosophisch präpariert wie er,« sagte Goethe, »so würde es besser gehen. Wenn ich aber ehrlich sagen soll, so tut es mir leid, daß ein ohne Zweifel kräftig geborener Mensch von der norddeutschen Seeküste wie Hinrichs durch die Hegelsche Philosophie so zugerichtet worden, daß ein unbefangenes natürliches Anschauen und Denken bei ihm ausgetrieben und eine künstliche und schwerfällige Art und Weise sowohl des Denkens wie des Ausdruckes ihm nach und nach angebildet worden, so daß wir in seinem Buch auf Stellen geraten, wo unser Verstand durchaus stille steht und man nicht mehr weiß, was man lieset.«

»Das ist mir nicht besser gegangen«, sagte ich. »Doch habe ich mich gefreut, auch auf Stellen zu stoßen, die mir durchaus menschlich und klar erschienen sind, wie z. B. seine Relation der Fabel des ›Ödip‹.«

»Hiebei«, sagte Goethe, »mußte er sich freilich scharf an der Sache halten. Es gibt aber in seinem Buche nicht wenige Stellen, bei denen der Gedanke nicht rückt und fortschreitet und wobei sich die dunkele Sprache immer auf demselbigen Fleck und immer in demselbigen Kreise bewegt, völlig so wie das Einmaleins der Hexe in meinem ›Faust‹. Geben Sie mir doch einmal das Buch. Von seiner sechsten Vorlesung, über den Chor, habe ich so viel wie gar nichts verstanden. Was sagen Sie z. B. zu diesem, welches nahe am Ende steht:

›Diese Wirklichkeit (nämlich des Volkslebens) ist als die wahre Bedeutung derselben deshalb auch allein nur ihre wahrhafte Wirklichkeit, die zugleich als sich selber die Wahrheit und Gewißheit, darum die allgemein geistige Gewißheit ausmacht, welche Gewißheit zugleich die versöhnende Gewißheit des Chors ist, so daß allein in dieser Gewißheit, die sich als das Resultat der gesamten Bewegung der tragischen Handlung erwiesen, der Chor erst wahrhaft dem allgemeinen Volksbewußtsein gemäß sich verhält und als solcher nicht bloß das Volk mehr vorstellt, sondern selbst an und für sich dasselbe seiner Gewißheit nach ist.‹

Ich dächte, wir hätten genug! – Was sollen erst die Engländer und Franzosen von der Sprache unserer Philosophen denken, wenn wir Deutschen sie selber nicht verstehen.«

»Und trotz alledem«, sagte ich, »sind wir darüber einig, daß dem Buch ein edles Wollen zugrunde liege und daß es die Eigenschaft habe, Gedanken zu erregen.«

»Seine Idee von Familie und Staat«, sagte Goethe, »und daraus hervorgehen könnenden tragischen Konflikten ist allerdings gut und fruchtbar; doch kann ich nicht zugeben, daß sie für die tragische Kunst die beste oder gar die einzig richtige sei.

Freilich leben wir alle in Familien und im Staat, und es trifft uns nicht leicht ein tragisches Schicksal, das uns nicht als Glieder von beiden träfe. Doch können wir auch ganz gut tragische Personen sein, und wären wir bloße Familien- oder wären wir bloße Staatsglieder. Denn es kommt im Grunde bloß auf den Konflikt an, der keine Auflösung zuläßt, und dieser kann entstehen aus dem Widerspruch welcher Verhältnisse er wolle, wenn er nur einen echten Naturgrund hinter sich hat und nur ein echt tragischer ist. So geht der Ajas zugrunde an dem Dämon verletzten Ehrgefühls, und der Herkules an dem Dämon liebender Eifersucht. In beiden Fällen ist nicht der geringste Konflikt von Familienpietät und Staatstugend vorhanden, welches doch nach Hinrichs die Elemente der griechischen Tragödie sein sollen.«

»Man sieht deutlich,« sagte ich, »daß er bei dieser Theorie bloß die ›Antigone‹ im Sinne hatte. Auch scheint er bloß den Charakter und die Handlungsweise dieser Heldin vor Augen gehabt zu haben, als er die Behauptung hinstellte, daß die Familienpietät am reinsten im Weibe erscheine und am allerreinsten in der Schwester, und daß die Schwester nur den Bruder ganz rein und geschlechtslos lieben könne.«

»Ich dächte,« erwiderte Goethe, »daß die Liebe von Schwester zu Schwester noch reiner und geschlechtsloser wäre! Wir müßten denn nicht wissen, daß unzählige Fälle vorgekommen sind, wo zwischen Schwester und Bruder, bekannter- und unbekannterweise, die sinnlichste Neigung stattgefunden.

Überhaupt«, fuhr Goethe fort, »werden Sie bemerkt haben, daß Hinrichs bei Betrachtung der griechischen Tragödie ganz von der Idee ausgeht und daß er sich auch den Sophokles als einen solchen denkt, der bei Erfindung und Anordnung seiner Stücke gleichfalls von einer Idee ausging und danach seine Charaktere und deren Geschlecht und Stand bestimmte. Sophokles ging aber bei seinen Stücken keineswegs von einer Idee aus, vielmehr ergriff er irgendeine längst fertige Sage seines Volkes, worin bereits eine gute Idee vorhanden, und dachte nur darauf, diese für das Theater so gut und wirksam als möglich darzustellen. Den Ajas wollen die Atreiden auch nicht beerdigen lassen; aber so wie in der ›Antigone‹ die Schwester für den Bruder strebt, so strebt im ›Ajas‹ der Bruder für den Bruder. Daß sich des unbeerdigten Polyneikes die Schwester und des gefallenen Ajas der Bruder annimmt, ist zufällig und gehört nicht der Erfindung des Dichters, sondern der Überlieferung, welcher der Dichter folgte und folgen mußte.«

»Auch was er über die Handlungsweise des Kreon sagt,« versetzte ich, »scheint ebensowenig Stich zu halten. Er sucht durchzuführen, daß dieser bei dem Verbot der Beerdigung des Polyneikes aus reiner Staatstugend handle: und da nun Kreon nicht bloß ein Mann, sondern auch ein Fürst ist, so stellte er den Satz auf, daß, da der Mann die tragische Macht des Staates vorstelle, dieses kein anderer sein könne als derjenige, welcher die Persönlichkeit des Staates selber sei, nämlich der Fürst, und daß von allen Personen der Mann als Fürst diejenige Person sei, welche die sittlichste Staatstugend übe.«

»Das sind Behauptungen,« erwiderte Goethe mit einigem Lächeln, »an die wohl niemand glauben wird. Kreon handelt auch keineswegs aus Staatstugend, sondern aus Haß gegen den Toten. Wenn Polyneikes sein väterliches Erbteil, woraus man ihn gewaltsam vertrieben, wieder zu erobern suchte, so lag darin keineswegs ein so unerhörtes Vergehen gegen den Staat, daß sein Tod nicht genug gewesen wäre und daß es noch der Bestrafung des unschuldigen Leichnams bedurft hätte.

Man sollte überhaupt nie eine Handlungsweise eine Staatstugend nennen, die gegen die Tugend im allgemeinen geht. Wenn Kreon den Polyneikes zu beerdigen verbietet und durch den verwesenden Leichnam nicht bloß die Luft verpestet, sondern auch Ursache ist, daß Hunde und Raubvögel die abgerissenen Stücke des Toten umherschleppen und damit sogar die Altäre besudeln, so ist eine solche Menschen und Götter beleidigende Handlungsweise keineswegs eine Staats-Tugend, sondern vielmehr ein Staats- Verbrechen. Auch hat er das ganze Stück gegen sich: er hat die Ältesten des Staats, welche den Chor bilden, gegen sich; er hat das Volk im allgemeinen gegen sich; er hat den Teiresias gegen sich; er hat seine eigene Familie gegen sich. Er aber hört nicht, sondern frevelt eigensinnig fort, bis er alle die Seinigen zugrunde gerichtet hat und er selber am Ende nur noch ein Schatten ist.«

»Und doch,« sagte ich, »wenn man ihn reden hört, so sollte man glauben, daß er einiges Recht habe.«

»Das ists eben,« erwiderte Goethe, »worin Sophokles ein Meister ist und worin überhaupt das Leben des Dramatischen besteht. Seine Charaktere besitzen alle eine solche Redegabe und wissen die Motive ihrer Handlungsweise so überzeugend darzulegen, daß der Zuhörer fast immer auf der Seite dessen ist, der zuletzt gesprochen hat.

Man sieht, er hat in seiner Jugend eine sehr tüchtige rhetorische Bildung genossen, wodurch er denn geübt worden, alle in einer Sache liegenden Gründe und Scheingründe aufzusuchen. Doch verleitete ihn diese seine große Fähigkeit auch zu Fehlern, indem er mitunter in den Fall kam, zu weit zu gehen.

So kommt in der ›Antigone‹ eine Stelle vor, die mir immer als ein Flecken erscheint, und worum ich vieles geben möchte, wenn ein tüchtiger Philologe uns bewiese, sie wäre eingeschoben und unecht.

Nachdem nämlich die Heldin im Laufe des Stückes die herrlichsten Gründe für ihre Handlung ausgesprochen und den Edelmut der reinsten Seele entwickelt hat, bringt sie zuletzt, als sie zum Tode geht, ein Motiv vor, das ganz schlecht ist und fast ans Komische streift.

Sie sagt, daß sie das, was sie für ihren Bruder getan, wenn sie Mutter gewesen wäre, nicht für ihre gestorbenen Kinder und nicht für ihren gestorbenen Gatten getan haben würde. Denn, sagt sie, wäre mir ein Gatte gestorben, so hätte ich einen anderen genommen, und wären mir Kinder gestorben, so hätte ich mir von dem neuen Gatten andere Kinder zeugen lassen. Allein mit meinem Bruder ist es ein anderes. Einen Bruder kann ich nicht wieder bekommen, denn da mein Vater und meine Mutter tot sind, so ist niemand da, der ihn zeugen könnte.

Dies ist wenigstens der nackte Sinn dieser Stelle, die nach meinem Gefühl in dem Munde einer zum Tode gehenden Heldin die tragische Stimmung stört und die mir überhaupt sehr gesucht und gar zu sehr als ein dialektisches Kalkül erscheint. – Wie gesagt, ich möchte sehr gerne, daß ein guter Philologe uns bewiese, die Stelle sei unecht.«

Wir sprachen darauf über Sophokles weiter, und daß er bei seinen Stücken weniger eine sittliche Tendenz vor Augen gehabt, als eine tüchtige Behandlung seines jedesmaligen Gegenstandes, besonders mit Rücksicht auf theatralische Wirkung.

»Ich habe nichts dawider,« sagte Goethe, »daß ein dramatischer Dichter eine sittliche Wirkung vor Augen habe; allein wenn es sich darum handelt, seinen Gegenstand klar und wirksam vor den Augen des Zuschauers vorüberzuführen, so können ihm dabei seine sittlichen Endzwecke wenig helfen, und er muß vielmehr ein großes Vermögen der Darstellung und Kenntnis der Bretter besitzen, um zu wissen, was zu tun und zu lassen. Liegt im Gegenstande eine sittliche Wirkung, so wird sie auch hervorgehen, und hätte der Dichter weiter nichts im Auge als seines Gegenstandes wirksame und kunstgemäße Behandlung. Hat ein Poet den hohen Gehalt der Seele wie Sophokles, so wird seine Wirkung immer sittlich sein, er mag sich stellen wie er wolle. Übrigens kannte er die Bretter und verstand sein Metier wie einer.«

»Wie sehr er das Theater kannte«, versetzte ich, »und wie sehr er eine theatralische Wirkung im Auge hatte, sieht man an seinem ›Philoktet‹ und der großen Ähnlichkeit, die dieses Stück in der Anordnung und dem Gange der Handlung mit dem ›Ödip in Kolonos‹ hat.

In beiden Stücken sehen wir den Helden in einem hülflosen Zustande, beide alt und an körperlichen Gebrechen leidend. Der Ödip hat als Stütze die führende Tochter zur Seite, der Philoktet den Bogen. Nun geht die Ähnlichkeit weiter. Beide hat man in ihrem Leiden verstoßen; aber nachdem das Orakel über beide ausgesagt, daß nur mit ihrer Hülfe der Sieg erlangt werden könne, so sucht man beider wieder habhaft zu werden. Zum Philoktet kommt der Odysseus, zum Ödip der Kreon. Beide beginnen ihre Reden mit List und süßen Worten; als aber diese nichts fruchten, so brauchen sie Gewalt, und wir sehen den Philoktet des Bogens und den Ödip der Tochter beraubt.«

»Solche Gewalttätigkeiten«, sagte Goethe, »gaben Anlaß zu trefflichen Wechselreden, und solche hülflose Zustände erregten die Gemüter des hörenden und schauenden Volkes, weshalb denn solche Situationen vom Dichter, dem es um Wirkung auf sein Publikum zu tun war, gerne herbeigeführt wurden. Um diese Wirkung beim Ödip zu verstärken, läßt ihn Sophokles als schwachen Greis auftreten, da er doch allen Umständen nach noch ein Mann in seiner besten Blüte sein mußte. Aber in so rüstigem Alter konnte ihn der Dichter in diesem Stück nicht gebrauchen, er hätte keine Wirkung getan, und er machte ihn daher zu einem schwachen hülfsbedürftigen Greise.«

»Die Ähnlichkeit mit dem Philoktet«, fuhr ich fort, »geht weiter. Beide Helden des Stückes sind nicht handelnd, sondern duldend. Dagegen hat jeder dieser passiven Helden der handelnden Figuren zwei gegen sich: der Ödip den Kreon und Polyneikes, der Philoktet den Neoptolemos und Odyß. Und zwei solcher gegenwirkenden Figuren waren nötig, um den Gegenstand von allen Seiten zur Sprache zu bringen und um auch für das Stück selbst die gehörige Fülle und Körperlichkeit zu gewinnen.«

»Sie könnten noch hinzufügen,« nahm Goethe das Wort, »daß beide Stücke auch darin Ähnlichkeit haben, daß wir in beiden die höchst wirksame Situation eines freudigen Wechsels sehen, indem dem einen Helden in seiner Trostlosigkeit die geliebte Tochter und dem andern der nicht weniger geliebte Bogen zurückgegeben wird.

Auch sind die versöhnenden Ausgänge beider Stücke sich ähnlich, indem beide Helden aus ihrem Leiden Erlösung erlangen: der Ödip, indem er selig entrückt wird, der Philoktet aber, indem wir durch Götterspruch seine Heilung vor Ilion durch den Äskulap voraussehen.

Wenn wir übrigens«, fuhr Goethe fort, »für unsere modernen Zwecke lernen wollen, uns auf dem Theater zu benehmen, so wäre Molière der Mann, an den wir uns zu wenden hätten.

Kennen Sie seinen ›Malade imaginaire‹? Es ist darin eine Szene, die mir, sooft ich das Stück lese, immer als Symbol einer vollkommenen Bretterkenntnis erscheint. Ich meine die Szene, wo der eingebildete Kranke seine kleine Tochter Louison befragt, ob nicht in dem Zimmer ihrer älteren Schwester ein junger Mann gewesen.

Nun hätte ein anderer, der das Metier nicht so gut verstand wie Molière, die kleine Louison das Faktum sogleich ganz einfach erzählen lassen, und es wäre getan gewesen.

Was bringt aber Molière durch allerlei retardierende Motive in diese Examination für Leben und Wirkung, indem er die kleine Louison zuerst tun läßt, als verstehe sie ihren Vater nicht; dann leugnet, daß sie etwas wisse; dann, von der Rute bedroht, wie tot hinfällt; dann, als der Vater in Verzweiflung ausbricht, aus ihrer fingierten Ohnmacht wieder schelmisch-heiter aufspringt, und zuletzt nach und nach alles gesteht.

Diese meine Andeutung gibt Ihnen von dem Leben jenes Auftritts nur den allermagersten Begriff; aber lesen Sie die Szene selbst und durchdringen Sie sich von ihrem theatralischen Werte, und Sie werden gestehen, daß darin mehr praktische Lehre enthalten als in sämtlichen Theorien.

Ich kenne und liebe Molière«, fuhr Goethe fort, »seit meiner Jugend und habe während meines ganzen Lebens von ihm gelernt. Ich unterlasse nicht, jährlich von ihm einige Stücke zu lesen, um mich immer im Verkehr des Vortrefflichen zu erhalten. Es ist nicht bloß das vollendete künstlerische Verfahren, was mich an ihm entzückt, sondern vorzüglich auch das liebenswürdige Naturell, das hochgebildete Innere des Dichters. Es ist in ihm eine Grazie und ein Takt für das Schickliche und ein Ton des feinen Umgangs, wie es seine angeborene schöne Natur nur im täglichen Verkehr mit den vorzüglichsten Menschen seines Jahrhunderts erreichen konnte. – Von Menander kenne ich nur die wenigen Bruchstücke, aber diese geben mir von ihm gleichfalls eine so hohe Idee, daß ich diesen großen Griechen für den einzigen Menschen halte, der mit Molière wäre zu vergleichen gewesen.«

»Ich bin glücklich,« erwiderte ich, »Sie so gut über Molière reden zu hören. Das klingt freilich ein wenig anders als Herr von Schlegel! Ich habe noch in diesen Tagen in seinen ›Vorlesungen über dramatische Poesie‹ mit großem Widerwillen verschluckt, was er über Molière sagt. Er behandelt ihn, wie Sie wissen, ganz von oben herab, als einen gemeinen Possenreißer, der die gute Gesellschaft nur aus der Ferne gesehen und dessen Gewerbe es gewesen, zur Ergötzung seines Herrn allerlei Schwänke zu erfinden. In solchen niedrig-lustigen Schwänken sei er noch am glücklichsten gewesen, doch habe er das Beste gestohlen. Zu der höheren Gattung des Lustspiels habe er sich zwingen müssen, und es sei ihm nie damit gelungen.«

»Einem Menschen wie Schlegel«, erwiderte Goethe, »ist freilich eine so tüchtige Natur wie Molière ein wahrer Dorn im Auge; er fühlt, daß er von ihm keine Ader hat, er kann ihn nicht ausstehen. Der ›Misanthrop‹, den ich, als eins meiner liebsten Stücke in der Welt, immer wieder lese, ist ihm zuwider; den ›Tartüff‹ lobt er gezwungenerweise ein bißchen, aber er setzt ihn sogleich wieder herab, soviel er nur kann. Daß Molière die Affektationen gelehrter Frauen lächerlich macht, kann Schlegel ihm nicht verzeihen; er fühlt wahrscheinlich, wie einer meiner Freunde bemerkte, daß er ihn selbst lächerlich gemacht haben würde, wenn er mit ihm gelebt hätte.

Es ist nicht zu leugnen,« fuhr Goethe fort, »Schlegel weiß unendlich viel, und man erschrickt fast über seine außerordentlichen Kenntnisse und seine große Belesenheit. Allein damit ist es nicht getan. Alle Gelehrsamkeit ist noch kein Urteil. Seine Kritik ist durchaus einseitig, indem er fast bei allen Theaterstücken bloß das Skelett der Fabel und Anordnung vor Augen hat und immer nur kleine Ähnlichkeiten mit großen Vorgängern nachweiset, ohne sich im mindesten darum zu bekümmern, was der Autor uns von anmutigem Leben und Bildung einer hohen Seele entgegenbringt. Was helfen aber alle Künste des Talents, wenn aus einem Theaterstücke uns nicht eine liebenswürdige oder große Persönlichkeit des Autors entgegenkommt, dieses Einzige, was in die Kultur des Volkes übergeht.

In der Art und Weise, wie Schlegel das französische Theater behandelt, finde ich das Rezept zu einem schlechten Rezensenten, dem jedes Organ für die Verehrung des Vortrefflichen mangelt und der über eine tüchtige Natur und einen großen Charakter hingeht, als wäre es Spreu und Stoppel.«

»Den Shakespeare und Calderon dagegen«, versetzte ich, »behandelt er gerecht und sogar mit entschiedener Neigung.«

»Beide«, erwiderte Goethe, »sind freilich der Art, daß man über sie nicht Gutes genug sagen kann, wiewohl ich mich auch nicht wundern würde, wenn Schlegel sie gleichfalls ganz schmählich herabgesetzt hätte. So ist er auch gegen Äschylus und Sophokles gerecht, allein dies scheint nicht sowohl zu geschehen, weil er von ihrem ganz außerordentlichen Werte lebendig durchdrungen wäre, als weil es bei den Philologen herkömmlich ist, beide sehr hoch zu stellen. Denn im Grunde reicht doch Schlegels eigenes Persönchen nicht hin, so hohe Naturen zu begreifen und gehörig zu schätzen. Wäre dies, so müßte er auch gegen Euripides gerecht sein und auch gegen diesen ganz anders zu Werke gehen, als er getan. Von diesem weiß er aber, daß die Philologen ihn nicht eben sonderlich hochhalten, und er verspürt daher kein geringes Behagen, daß es ihm, auf so große Autorität hin, vergönnt ist, über diesen großen Alten ganz schändlich herzufallen und ihn zu schulmeistern, wie er nur kann.

Ich habe nichts dawider, daß Euripides seine Fehler habe; allein er war von Sophokles und Äschylus doch immerhin ein sehr ehrenwerter Mitstreiter. Wenn er nicht den hohen Ernst und die strenge Kunstvollendung seiner beiden Vorgänger besaß und dagegen als Theaterdichter die Dinge ein wenig läßlicher und menschlicher traktierte, so kannte er wahrscheinlich seine Athenienser hinreichend, um zu wissen, daß der von ihm angestimmte Ton für seine Zeitgenossen eben der rechte sei. Ein Dichter aber, den Sokrates seinen Freund nannte, den Aristoteles hochstellte, den Menander bewunderte und um den Sophokles und die Stadt Athen bei der Nachricht von seinem Tode Trauerkleider anlegte, mußte doch wohl in der Tat etwas sein. Wenn ein moderner Mensch wie Schlegel an einem so großen Alten Fehler zu rügen hätte, so sollte es billig nicht anders geschehen als auf den Knien.«


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