Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Mittwoch, den 17. März 1830

Mit Goethe zu Tisch. Ich sprach mit ihm über eine Stelle in seinen Gedichten, ob es heißen müsse: »Wie es dein Priester Horaz in der Entzückung verhieß«, wie in allen älteren Ausgaben steht; oder: »Wie es dein Priester Properz etc.« welches die neue Ausgabe hat.

»Zu dieser letzteren Lesart«, sagte Goethe, »habe ich mich durch Göttling verleiten lassen. Priester Properz klingt zudem schlecht, und ich bin daher für die frühere Lesart.«

»So«, sagte ich, »stand auch in dem Manuskript Ihrer ›Helena‹, daß Theseus sie entführet als ein zehenjährig schlankes Reh. Auf Göttlings Einwendungen dagegen haben Sie nun drucken lassen: ein siebenjährig schlankes Reh, welches gar zu jung ist, sowohl für das schöne Mädchen als für die Zwillingsbrüder Kastor und Pollux, die sie befreien. Das Ganze liegt ja so in der Fabelzeit, daß niemand sagen kann, wie alt sie eigentlich war, und zudem ist die ganze Mythologie so versatil, daß man die Dinge brauchen kann, wie es am bequemsten und hübschesten ist.«

»Sie haben recht,« sagte Goethe; »ich bin auch dafür, daß sie zehn Jahr alt gewesen sei, als Theseus sie entführet, und ich habe daher auch später geschrieben: vom zehnten Jahr an hat sie nichts getaugt. In der künftigen Ausgabe mögt Ihr daher aus dem siebenjährigen Reh immer wieder ein zehnjähriges machen.«

Zum Nachtisch zeigte Goethe mir zwei frische Hefte von Neureuther, nach seinen Balladen, und wir bewunderten vor allem den freien heitern Geist des liebenswürdigen Künstlers.


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