Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Donnerstag, den 9. Oktober 1828

Zu Ehren Tiecks war diesen Abend in den Zimmern der Frau von Goethe ein sehr unterhaltender Tee. Ich machte die Bekanntschaft des Grafen und der Gräfin Medem; letztere sagte mir, daß sie am Tage Goethe gesehen und wie sie von diesem Eindruck noch im Innersten beglückt sei. Der Graf interessierte sich besonders für den ›Faust‹ und dessen Fortsetzung, über welche Dinge er sich mit mir eine Weile lebhaft unterhielt.

Man hatte uns Hoffnung gemacht, daß Tieck etwas lesen würde; und so geschah es auch. Die Gesellschaft begab sich sehr bald in ein entfernteres Zimmer, und nachdem jeder es sich in einem weiten Kreis auf Stühlen und Sofas zum Anhören bequem gemacht, las Tieck den ›Clavigo‹.

Ich hatte das Stück oft gelesen und empfunden, doch jetzt erschien es mir durchaus neu und tat eine Wirkung wie fast nie zuvor. Es war mir, als hörte ich es vom Theater herunter, allein besser; die einzelnen Charaktere und Situationen waren vollkommener gefühlt; es machte den Eindruck einer Vorstellung, in der jede Rolle ganz vortrefflich besetzt worden.

Man könnte kaum sagen, welche Partien des Stückes Tieck besser gelesen, ob solche, in denen sich Kraft und Leidenschaft der Männer entwickelt, ob ruhig-klare Verstandesszenen, oder ob Momente gequälter Liebe. Zu dem Vortrag letzterer Art standen ihm jedoch ganz besondere Mittel zu Gebot. Die Szene zwischen Marie und Clavigo tönet mir noch immer vor den Ohren; die gepreßte Brust, das Stocken und Zittern der Stimme, abgebrochene, halberstickte Worte und Laute, das Hauchen und Seufzen eines in Begleitung von Tränen heißen Atems, alles dieses ist mir noch vollkommen gegenwärtig und wird mir unvergeßlich sein. Jedermann war im Anhören versunken und davon hingerissen; die Lichter brannten trübe, niemand dachte daran oder wagte es, sie zu putzen, aus Furcht vor der leisesten Unterbrechung; Tränen in den Augen der Frauen, die immer wieder hervorquollen, zeugten von des Stückes tiefer Wirkung und waren wohl der gefühlteste Tribut, der dem Vorleser wie dem Dichter gezollt werden konnte.

Tieck hatte geendigt und stand auf, sich den Schweiß von der Stirne wischend. Die Hörenden aber waren noch immer wie gefesselt auf ihren Stühlen; jeder schien in dem, was ihm soeben durch die Seele gegangen war, noch zu tief begriffen, als daß er passende Worte des Dankes für den hätte bereit haben sollen, der eine so wunderbare Wirkung auf alle hervorgebracht hatte.

Nach und nach fand man sich wieder; man stand auf und sprach und ging erheitert durcheinander; dann aber begab man sich zu einem Souper, das in den Nebenzimmern auf kleinen Tischen bereit stand.

Goethe selbst war diesen Abend nicht gegenwärtig, aber sein Geist und sein Andenken war unter uns allen lebendig. Er sendete Tieck seine Entschuldigung, dessen beiden Töchtern, Agnes und Dorothea, aber zwei Tuchnadeln mit seinem Bildnis und roten Bandschleifen, die Frau von Goethe überreichte und wie kleine Orden ihnen vorsteckte.


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