Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Mittwoch, den 29. Oktober 1823

Diesen Abend zur Zeit des Lichtanzündens ging ich zu Goethe. Ich fand ihn sehr frischen aufgeweckten Geistes, seine Augen funkelten im Widerschein des Lichtes, sein ganzer Ausdruck war Heiterkeit, Kraft und Jugend.

Er fing sogleich von den Gedichten, die ich ihm gestern zugeschickt, zu reden an, indem er mit mir in seinem Zimmer auf und ab ging.

»Ich begreife jetzt,« begann er, »wie Sie in Jena gegen mich äußern konnten, Sie wollten ein Gedicht über die Jahreszeiten machen. Ich rate jetzt dazu; fangen Sie gleich mit dem Winter an. Sie scheinen für natürliche Gegenstände besondern Sinn und Blick zu haben.

Nur zwei Worte will ich Ihnen über die Gedichte sagen. Sie stehen jetzt auf dem Punkt, wo Sie notwendig zum eigentlich Hohen und Schweren der Kunst durchbrechen müssen, zur Auffassung des Individuellen. Sie müssen mit Gewalt, damit Sie aus der Idee herauskommen; Sie haben das Talent und sind so weit vorgeschritten, jetzt müssen Sie. Sie sind dieser Tage in Tiefurt gewesen, das möchte ich Ihnen zunächst zu einer solchen Aufgabe machen. Sie können vielleicht noch drei- bis viermal hingehen und Tiefurt betrachten, ehe Sie ihm die charakteristische Seite abgewinnen und alle Motive beisammen haben; doch scheuen Sie die Mühe nicht, studieren Sie alles wohl und stellen Sie es dar; der Gegenstand verdient es. Ich selbst hätte es längst gemacht; allein ich kann es nicht, ich habe jene bedeutenden Zustände selbst mit durchlebt, ich bin zu sehr darin befangen, so daß die Einzelnheiten sich mir in zu großer Fülle aufdrängen. Sie aber kommen als Fremder und lassen sich vom Kastellan das Vergangene erzählen und sehen nur das Gegenwärtige, Hervorstechende, Bedeutende.«

Ich versprach, mich daran zu versuchen, obgleich ich nicht leugnen könne, daß es eine Aufgabe sei, die mir sehr fern stehe und die ich für sehr schwierig halte.

»Ich weiß wohl,« sagte Goethe, »daß es schwer ist, aber die Auffassung und Darstellung des Besonderen ist auch das eigentliche Leben der Kunst.

Und dann: solange man sich im Allgemeinen hält, kann es uns jeder nachmachen; aber das Besondere macht uns niemand nach. Warum? Weil es die anderen nicht erlebt haben.

Auch braucht man nicht zu fürchten, daß das Besondere keinen Anklang finde. Jeder Charakter, so eigentümlich er sein möge, und jedes Darzustellende, vom Stein herauf bis zum Menschen, hat Allgemeinheit; denn alles wiederholt sich, und es gibt kein Ding in der Welt, das nur einmal da wäre.

Auf dieser Stufe der individuellen Darstellung«, fuhr Goethe fort, »beginnet dann zugleich dasjenige, was man Komposition nennet.«

Dieses war mir nicht sogleich klar, doch enthielt ich mich, danach zu fragen. Vielleicht, dachte ich, meint er damit die künstlerische Verschmelzung des Idealen mit dem Realen, die Vereinigung von dem, was außer uns befindlich, mit dem, was innerlich uns angeboren. Doch vielleicht meinte er auch etwas anderes. Goethe fuhr fort:

»Und dann setzen Sie unter jedes Gedicht immer das Datum, wann Sie es gemacht haben.« Ich sah ihn fragend an, warum das so wichtig. »Es gilt dann«, fügte er hinzu, »zugleich als Tagebuch Ihrer Zustände. Und das ist nichts Geringes. Ich habe es seit Jahren getan und sehe ein, was das heißen will.«

Es war indes die Zeit des Theaters herangekommen, und ich verließ Goethe. »Sie gehen nun nach Finnland!« rief er mir scherzend nach. Es ward nämlich gegeben: ›Johann von Finnland‹ von der Frau von Weißenthurn.

Es fehlte dem Stück nicht an wirksamen Situationen, doch war es mit Rührendem so überladen, und ich sah überall so viel Absicht, daß es im ganzen auf mich keinen guten Eindruck machte. Der letzte Akt indes gefiel mir sehr wohl und söhnte mich wieder aus.

Infolge dieses Stückes machte ich nachstehende Bemerkung. Von einem Dichter nur mittelmäßig gezeichnete Charaktere werden bei der Theaterdarstellung gewinnen, weil die Schauspieler, als lebendige Menschen, sie zu lebendigen Wesen machen und ihnen zu irgendeiner Art von Individualität verhelfen. Von einem großen Dichter meisterhaft gezeichnete Charaktere dagegen, die schon alle mit einer durchaus scharfen Individualität dastehen, müssen bei der Darstellung notwendig verlieren, weil die Schauspieler in der Regel nicht durchaus passen und die wenigsten ihre eigene Individualität so sehr verleugnen können. Findet sich beim Schauspieler nicht ganz das Gleiche, oder besitzt er nicht die Gabe einer gänzlichen Ablegung seiner eigenen Persönlichkeit, so entsteht ein Gemisch, und der Charakter verliert seine Reinheit. Daher kommt es denn, daß ein Stück eines wirklich großen Dichters immer nur in einzelnen Figuren so zur Erscheinung kommt, wie es die ursprüngliche Intention war.


 << zurück weiter >>