Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Sonntag abend, den 21. [?] Januar 1827

Ich ging diesen Abend halb achte zu Goethe und blieb ein Stündchen bei ihm. Er zeigte mir einen Band neuer französischer Gedichte der Demoiselle Gay und sprach darüber mit großem Lobe. »Die Franzosen«, sagte er, »machen sich heraus, und es ist der Mühe wert, daß man sich nach ihnen umsieht. Ich bin mit Fleiß darüber her, mir von dem Stande der neuesten französischen Literatur einen Begriff zu machen und, wenn es glückt, mich auch darüber auszusprechen. Es ist mir höchst interessant, zu sehen, daß diejenigen Elemente bei ihnen erst anfangen zu wirken, die bei uns längst durchgegangen sind. Das mittlere Talent ist freilich immer in der Zeit befangen und muß sich aus denjenigen Elementen nähren, die in ihr liegen. Es ist bei ihnen bis auf die neueste Frömmigkeit alles dasselbige wie bei uns, nur daß es bei ihnen ein wenig galanter und geistreicher zum Vorschein kommt.«

»Was sagen aber Eure Exzellenz zu Béranger und dem Verfasser der Stücke der Clara Gazul?«

»Diese nehme ich aus,« sagte Goethe, »das sind große Talente, die ein Fundament in sich selber haben und sich von der Gesinnungsweise des Tages frei erhalten.« – »Dieses zu hören, ist mir sehr lieb,« sagte ich, »denn ich hatte über diese beiden ungefähr dieselbige Empfindung.«

Das Gespräch wendete sich von der französischen Literatur auf die deutsche. »Da will ich Ihnen doch etwas zeigen,« sagte Goethe, »das für Sie Interesse haben wird. Reichen Sie mir doch einen der beiden Bände, die vor Ihnen liegen. Solger ist Ihnen bekannt?« – »Allerdings,« sagte ich; »ich habe ihn sogar lieb. Ich besitze seine Übersetzung des Sophokles, und sowohl diese als die Vorrede dazu gaben mir längst von ihm eine hohe Meinung.« – »Sie wissen, er ist vor mehreren Jahren gestorben,« sagte Goethe, »und man hat jetzt eine Sammlung seiner nachgelassenen Schriften und Briefe herausgegeben. In seinen philosophischen Untersuchungen, die er in der Form der Platonischen Dialoge gibt, ist er nicht so glücklich; aber seine Briefe sind vortrefflich. In einem derselben schreibt er an Tieck über die ›Wahlverwandtschaften‹, und diesen muß ich Ihnen vorlesen, denn es ist nicht leicht etwas Besseres über jenen Roman gesagt worden.«

Goethe las mir die treffliche Abhandlung vor, und wir besprachen sie punktweise, indem wir die von einem großen Charakter zeugenden Ansichten und die Konsequenz seiner Ableitungen und Folgerungen bewunderten. Obgleich Solger zugestand, daß das Faktum in den ›Wahlverwandtschaften‹ aus der Natur aller Charaktere hervorgehe, so tadelte er doch den Charakter des Eduard.

»Ich kann ihm nicht verdenken,« sagte Goethe, »daß er den Eduard nicht leiden mag, ich mag ihn selber nicht leiden, aber ich mußte ihn so machen, um das Faktum hervorzubringen. Er hat übrigens viele Wahrheit, denn man findet in den höheren Ständen Leute genug, bei denen ganz wie bei ihm der Eigensinn an die Stelle des Charakters tritt.«

Hoch vor allen stellte Solger den Architekten, denn wenn alle übrigen Personen des Romans sich liebend und schwach zeigten, so sei er der einzige, der sich stark und frei erhalte. Und eben das Schöne an seiner Natur sei nicht sowohl dieses, daß er in die Verirrungen der übrigen Charaktere nicht hineingerate, sondern daß der Dichter ihn so groß gemacht, daß er nicht hineingeraten könne.

Wir freuten uns über dieses Wort. »Das ist freilich sehr schön«, sagte Goethe. – »Ich habe«, sagte ich, »den Charakter des Architekten auch immer sehr bedeutend und liebenswürdig gefunden, allein daß er eben deswegen so vortrefflich sei, daß er vermöge seiner Natur in jene Verwickelungen der Liebe nicht hineingeraten könne, daran habe ich freilich nicht gedacht.« – »Wundern Sie sich darüber nicht,« sagte Goethe, »denn ich habe selber nicht daran gedacht, als ich ihn machte. Aber Solger hat recht, es liegt allerdings in ihm.

Dieser Aufsatz«, fuhr Goethe fort, »ist schon im Jahre 1809 geschrieben, und es hätte mich damals freuen können, ein so gutes Wort über die ›Wahlverwandtschaften‹ zu hören, während man in jener Zeit und später mir eben nicht viel Angenehmes über jenen Roman erzeigte.

Solger hat, wie ich aus diesen Briefen sehe, viel Liebe zu mir gehabt; er beklagt sich in einem derselben, daß ich ihm auf den ›Sophokles‹, den er mir zugesendet, nicht einmal geantwortet. Lieber Gott – aber wie das bei mir geht! Es ist nicht zu verwundern. Ich habe große Herren gekannt, denen man viel zusendete. Diese machten sich gewisse Formulare und Redensarten, womit sie jedes erwiderten, und so schrieben sie Briefe zu Hunderten, die sich alle gleich und alle Phrase waren. In mir aber lag dieses nie. Wenn ich nicht jemanden etwas Besonderes und Gehöriges sagen konnte, wie es in der jedesmaligen Sache lag, so schrieb ich lieber gar nicht. Oberflächliche Redensarten hielt ich für unwürdig, und so ist es denn gekommen, daß ich manchem wackern Manne, dem ich gerne geschrieben hätte, nicht antworten konnte. Sie sehen ja selbst, wie das bei mir geht und welche Zusendungen von allen Ecken und Enden täglich bei mir einlaufen, und müssen gestehen, daß dazu mehr als ein Menschenleben gehören würde, wenn man alles nur flüchtig erwidern wollte. Aber um Solger tut es mir leid; er ist gar zu vortrefflich und hätte vor vielen andern etwas Freundliches verdient.«

Ich brachte das Gespräch auf die Novelle, die ich nun zu Hause wiederholt gelesen und betrachtet hatte. »Der ganze Anfang«, sagte ich, »ist nichts als Exposition, aber es ist darin nichts vorgeführt als das Notwendige, und das Notwendige mit Anmut, so daß man nicht glaubt, es sei eines andern wegen da, sondern es wolle bloß für sich selber sein und für sich selber gelten.«

»Es ist mir lieb,« sagte Goethe, »wenn Sie dieses so finden. Doch eins muß ich noch tun. Nach den Gesetzen einer guten Exposition nämlich muß ich die Besitzer der Tiere schon vorne auftreten lassen. Wenn die Fürstin und der Oheim an der Bude vorbereiten, müssen die Leute heraustreten und die Fürstin bitten, auch ihre Bude mit einem Besuch zu beglücken.« –»Gewiß,« sagte ich, »Sie haben recht; denn da alles übrige in der Exposition angedeutet ist, so müssen es auch diese Leute werden, und es liegt ganz in der Sache, da sie sich gewöhnlich an der Kasse aufhalten, daß sie die Fürstin nicht so unangefochten werden vorbereiten lassen.« – »Sie sehen,« sagte Goethe, »daß man an einer solchen Arbeit, wenn sie auch schon im ganzen fertig, daliegt, im einzelnen noch immer zu tun hat.«

Goethe erzählte mir sodann von einem Ausländer, der in dieser Zeit ihn hin und wieder besucht und davon gesprochen, wie er dieses und jenes von seinen Werken übersetzen wolle. »Er ist ein guter Mensch,« sagte Goethe, »doch in literarischer Hinsicht bezeigt er sich als ein wahrer Dilettant. Denn er kann noch kein Deutsch und spricht schon von Übersetzungen, die er machen, und von Porträten, die er ihnen will vordrucken lassen. Das ist aber eben das Wesen der Dilettanten, daß sie die Schwierigkeiten nicht kennen, die in einer Sache liegen, und daß sie immer etwas unternehmen wollen wozu sie keine Kräfte haben.«


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