Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Montag, den 20. Oktober 1828

Oberbergrat Noeggerath aus Bonn, von dem Verein der Naturforscher aus Berlin zurückkehrend, war heute an Goethes Tisch ein sehr willkommener Gast. Über Mineralogie ward viel verhandelt; der werte Fremde gab besonders gründliche Auskunft über die mineralogischen Vorkommen und Verhältnisse in der Nähe von Bonn.

Nach aufgehobener Tafel traten wir in das Zimmer mit der kolossalen Büste der Juno. Goethe zeigte den Gästen einen langen Papierstreifen mit Konturen des Frieses vom Tempel zu Phigalia. Man betrachtete das Blatt und wollte bemerken, daß die Griechen bei ihren Darstellungen von Tieren sich weniger an die Natur gehalten, als daß sie dabei nach einer gewissen Konvenienz verfahren. Man wollte gefunden haben, daß sie in Darstellungen dieser Art hinter der Natur zurückgeblieben, und daß Widder, Opferstiere und Pferde, wie sie auf Basreliefs vorkommen, häufig sehr steife, unförmliche und unvollkommene Geschöpfe seien.

»Ich will darüber nicht streiten,« sagte Goethe, »aber vor allen Dingen muß man unterscheiden, aus welcher Zeit und von welchem Künstler solche Werke herrühren. Denn so ließen sich wohl Musterstücke in Menge vorlegen, wo griechische Künstler in ihren Darstellungen von Tieren die Natur nicht allein erreicht, sondern sogar weit übertroffen haben. Die Engländer, die ersten Pferdekenner der Welt, müssen doch jetzt von zwei antiken Pferdeköpfen gestehen, daß sie in ihren Formen so vollkommen befunden werden, wie jetzt gar keine Rassen mehr auf der Erde existieren. Es sind diese Köpfe aus der besten griechischen Zeit; und wenn uns nun solche Werke in Erstaunen setzen, so haben wir nicht sowohl anzunehmen, daß jene Künstler nach einer mehr vollkommenen Natur gearbeitet haben, wie die jetzige ist, als vielmehr, daß sie im Fortschritte der Zeit und Kunst selber etwas geworden waren, so daß sie sich mit persönlicher Großheit an die Natur wandten.«

Während dieses gesprochen wurde, stand ich mit einer Dame seitwärts an einem Tisch, um ein Kupferwerk zu betrachten, und ich konnte zu Goethes Worten nur ein halbes Ohr wenden; desto tiefer aber ergriff ich sie mit meiner Seele.

Die Gesellschaft war nach und nach gegangen und ich mit Goethe allein gelassen, der sich zum Ofen stellte. Ich trat in seine Nähe.

»Euer Exzellenz«, sagte ich, »haben vorhin in der Äußerung, daß die Griechen sich mit persönlicher Großheit an die Natur gewandt, ein gutes Wort gesprochen, und ich halte dafür, daß man sich von diesem Satz nicht tief genug durchdringen könne.«

»Ja, mein Guter,« sagte Goethe, »hierauf kommt alles an. Man muß etwas sein, um etwas zu machen. Dante erscheint uns groß, aber er hatte eine Kultur von Jahrhunderten hinter sich; das Haus Rothschild ist reich, aber es hat mehr als ein Menschenalter gekostet, um zu solchen Schätzen zu gelangen. Diese Dinge liegen alle tiefer, als man denkt. Unsere guten altdeutschelnden Künstler wissen davon nichts, sie wenden sich mit persönlicher Schwäche und künstlerischem Unvermögen zur Nachahmung der Natur und meinen, es wäre was. Sie stehen unter der Natur. Wer aber etwas Großes machen will, muß seine Bildung so gesteigert haben, daß er gleich den Griechen imstande sei, die geringere reale Natur zu der Höhe seines Geistes heranzuheben und dasjenige wirklich zu machen, was in natürlichen Erscheinungen, aus innerer Schwäche oder aus äußerem Hindernis, nur Intention geblieben ist.«


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