Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Montag, den 6. April 1829

Goethe gab mir einen Brief von Egon Ebert, den ich bei Tische las und der mir Freude machte. Wir sprachen viel Löbliches von Egon Ebert und Böhmen, und gedachten auch des Professors Zauper mit Liebe.

»Das Böhmen ist ein eigenes Land,« sagte Goethe, »ich bin dort immer gerne gewesen. Die Bildung der Literatoren hat noch etwas Reines, welches im nördlichen Deutschland schon anfängt selten zu werden, indem hier jeder Lump schreibt, bei dem an ein sittliches Fundament und eine höhere Absicht nicht zu denken ist.«

Goethe sprach sodann von Egon Eberts neuestem epischen Gedicht, desgleichen von der früheren Weiberherrschaft in Böhmen, und woher die Sage von den Amazonen entstanden.

Dies brachte die Unterhaltung auf das Epos eines anderen Dichters, der sich viel Mühe gegeben, sein Werk in öffentlichen Blättern günstig beurteilt zu sehen. »Solche Urteile«, sagte Goethe, »sind denn auch hier und dort erschienen. Nun aber ist die ›Hallesche Literaturzeitung‹ dahinter gekommen und hat geradezu ausgesprochen, was von dem Gedicht eigentlich zu halten, wodurch denn alle günstigen Redensarten der übrigen Blätter vernichtet worden. Wer jetzt nicht das Rechte will, ist bald entdeckt; es ist nicht mehr die Zeit, das Publikum zum besten zu haben und es in die Irre zu führen.«

»Ich bewundere,« sagte ich, »daß die Menschen um ein wenig Namen es sich so sauer werden lassen, so daß sie selbst zu falschen Mitteln ihre Zuflucht nehmen.«

»Liebes Kind,« sagte Goethe, »ein Name ist nichts Geringes. Hat doch Napoleon eines großen Namens wegen fast die halbe Welt in Stücke geschlagen!«

Es entstand eine kleine Pause im Gespräch. Dann aber erzählte Goethe mir Ferneres von dem neuen Buche über Napoleon. »Die Gewalt des Wahren ist groß«, sagte er. »Aller Nimbus, alle Illusion, die Journalisten, Geschichtsschreiber und Poeten über Napoleon gebracht haben, verschwindet vor der entsetzlichen Realität dieses Buchs; aber der Held wird dadurch nicht kleiner, vielmehr wächst er, so wie er an Wahrheit zunimmt.«

»Eine eigene Zaubergewalt«, sagte ich, »mußte er in seiner Persönlichkeit haben, daß die Menschen ihm sogleich zufielen und anhingen und sich von ihm leiten ließen.«

»Allerdings«, sagte Goethe, »war seine Persönlichkeit eine überlegene. Die Hauptsache aber bestand darin, daß die Menschen gewiß waren, ihre Zwecke unter ihm zu erreichen. Deshalb fielen sie ihm zu, so wie sie es jedem tun, der ihnen eine ähnliche Gewißheit einflößt. Fallen doch die Schauspieler einem neuen Regisseur zu, von dem sie glauben, daß er sie in gute Rollen bringen werde. Dies ist ein altes Märchen, das sich immer wiederholt; die menschliche Natur ist einmal so eingerichtet. Niemand dienet einem andern aus freien Stücken; weiß er aber, daß er damit sich selber dient, so tut er es gerne. Napoleon kannte die Menschen zu gut, und er wußte von ihren Schwächen den gehörigen Gebrauch zu machen.«

Das Gespräch wendete sich auf Zelter. »Sie wissen,« sagte Goethe, »daß Zelter den preußischen Orden bekommen. Nun hatte er aber noch kein Wappen; aber eine große Nachkommenschaft ist da, und somit die Hoffnung auf eine weit hinaus dauernde Familie. Er mußte also ein Wappen haben, damit eine ehrenvolle Grundlage sei, und ich habe den lustigen Einfall gehabt, ihm eins zu machen. Ich schrieb an ihn, und er war es zufrieden; aber ein Pferd wollte er haben. Gut, sagte ich, ein Pferd sollst du haben, aber eins mit Flügeln. Sehen Sie sich einmal um, hinter Ihnen liegt ein Papier, ich habe darauf mit einer Bleifeder den Entwurf gemacht.«

Ich nahm das Blatt und betrachtete die Zeichnung. Das Wappen sah sehr stattlich aus, und die Erfindung mußte ich loben. Das untere Feld zeigte die Turmzinne einer Stadtmauer, um anzudeuten, daß Zelter in früherer Zeit ein tüchtiger Maurer gewesen. Ein geflügeltes Pferd hebt sich dahinter hervor, nach höheren Regionen strebend, wodurch sein Genius und Aufschwung zum Höheren ausgesprochen war. Dem Wappenschilde oben fügte sich eine Lyra auf, über welcher ein Stern leuchtete, als ein Symbol der Kunst, wodurch der treffliche Freund unter dem Einfluß und Schutz günstiger Gestirne sich Ruhm erworben. Unten, dem Wappen an, hing der Orden, womit sein König ihn beglückt und geehrt als Zeichen gerechter Anerkennung großer Verdienste.

»Ich habe es von Facius stechen lassen,« sagte Goethe, »und Sie sollen einen Abdruck sehen. Ist es aber nicht artig, daß ein Freund dem andern ein Wappen macht und ihm dadurch gleichsam den Adel gibt?« Wir freuten uns über den heiteren Gedanken, und Goethe schickte zu Facius, um einen Abdruck holen zu lassen.

Wir saßen noch eine Weile am Tisch, indem wir zu gutem Biskuit einige Gläser alten Rheinwein tranken. Goethe summte Undeutliches vor sich hin. Mir kam das Gedicht von gestern wieder in den Kopf, ich rezitierte:

Du hast mir mein Gerät verstellt und verschoben;
Ich such und bin wie blind und irre geworden –

»Ich kann das Gedicht nicht wieder loswerden,« sagte ich, »es ist durchaus eigenartig und drückt die Unordnung so gut aus, die durch die Liebe in unser Leben gebracht wird.«

»Es bringt uns einen düsteren Zustand vor Augen«, sagte Goethe.

»Es macht mir den Eindruck eines Bildes,« sagte ich, »eines niederländischen.«

»Es hat so etwas von ›Good man und good wife‹«, sagte Goethe.

»Sie nehmen mir das Wort von der Zunge,« sagte ich, »denn ich habe schon fortwährend an jenes Schottische denken müssen, und das Bild von Ostade war mir vor Augen.«

»Aber wunderlich ist es,« sagte Goethe, »daß sich beide Gedichte nicht malen lassen; sie geben wohl den Eindruck eines Bildes, eine ähnliche Stimmung, aber gemalt wären sie nichts.«

»Es sind dieses schöne Beispiele,« sagte ich, »wo die Poesie der Malerei so nahe als möglich tritt, ohne aus ihrer eigentlichen Sphäre zu gehen. Solche Gedichte sind mir die liebsten, indem sie Anschauung und Empfindung zugleich gewähren. Wie Sie aber zu dem Gefühl eines solchen Zustandes gekommen sind, begreife ich kaum; das Gedicht ist wie aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt.«

»Ich werde es auch nicht zum zweiten Male machen,« sagte Goethe, »und wüßte auch nicht zu sagen, wie ich dazu gekommen bin; wie uns denn dieses sehr oft geschieht.«

»Noch etwas Eigenes«, sagte ich, »hat das Gedicht. Es ist mir immer, als wäre es gereimt, und doch ist es nicht so. Woher kommt das?«

»Es liegt im Rhythmus«, sagte Goethe. »Die Verse beginnen mit einem Vorschlag, gehen trochäisch fort, wo denn der Daktylus gegen das Ende eintritt, welcher eigenartig wirkt und wodurch es einen düster klagenden Charakter bekommt.« Goethe nahm eine Bleifeder und teilte so ab:

–   ◡ –   ◡ –   ◡ –   ◡   ◡ –   ◡
Von | meinem | breiten | Lager | bin ich ver | trieben.

Wir sprachen über Rhythmus im allgemeinen und kamen darin überein, daß sich über solche Dinge nicht denken lasse. »Der Takt«, sagte Goethe, »kommt aus der poetischen Stimmung, wie unbewußt. Wollte man darüber denken, wenn man ein Gedicht macht, man würde verrückt und brächte nichts Gescheites zustande.«

Ich wartete auf den Abdruck des Siegels. Goethe fing an über Guizot zu reden. »Ich gehe in seinen Vorlesungen fort,« sagte er, »und sie halten sich trefflich. Die diesjährigen gehen etwa bis ins achte Jahrhundert. Er besitzt einen Tiefblick und Durchblick, wie er mir bei keinem Geschichtsschreiber größer vorgekommen. Dinge, woran man nicht denkt, erhalten in seinen Augen die größte Wichtigkeit, als Quellen bedeutender Ereignisse. Welchen Einfluß z. B. das Vorwalten gewisser religiöser Meinungen auf die Geschichte gehabt, wie die Lehre von der Erbsünde, von der Gnade, von guten Werken gewissen Epochen eine solche und eine andere Gestalt gegeben, sehen wir deutlich hergeleitet und nachgewiesen. Auch das römische Recht, als ein fortlebendes, das gleich einer untertauchenden Ente sich zwar von Zeit zu Zeit verbirgt, aber nie ganz verloren geht und immer einmal wieder lebendig hervortritt, sehen wir sehr gut behandelt, bei welcher Gelegenheit denn auch unserm trefflichen Savigny volle Anerkennung zuteil wird.

Wie Guizot von den Einflüssen redet, welche die Gallier in früher Zeit von fremden Nationen empfangen, ist mir besonders merkwürdig gewesen, was er von den Deutschen sagt. ›Die Germanen‹, sagt er, ›brachten uns die Idee der persönlichen Freiheit, welche diesem Volke vor allem eigen war.‹ Ist das nicht sehr artig und hat er nicht vollkommen recht, und ist nicht diese Idee noch bis auf den heutigen Tag unter uns wirksam? Die Reformation kam aus dieser Quelle wie die Burschenverschwörung auf der Wartburg, Gescheites wie Dummes. Auch das Buntscheckige unserer Literatur, die Sucht unserer Poeten nach Originalität, und daß jeder glaubt, eine neue Bahn machen zu müssen, sowie die Absonderung und Verisolierung unserer Gelehrten, wo jeder für sich steht und von seinem Punkte aus sein Wesen treibt: alles kommt daher. Franzosen und Engländer dagegen halten weit mehr zusammen und richten sich nacheinander. In Kleidung und Betragen haben sie etwas Übereinstimmendes. Sie fürchten, voneinander abzuweichen, um sich nicht auffallend oder gar lächerlich zu machen. Die Deutschen aber gehen jeder seinem Kopfe nach, jeder sucht sich selber genug zu tun er fragt nicht nach dem andern, denn in jedem lebt, wie Guizot richtig gefunden hat, die Idee der persönlichen Freiheit, woraus denn, wie gesagt, viel Treffliches hervorgeht, aber auch viel Absurdes.«


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