Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Montag, den 3. November 1823

Ich ging gegen fünf zu Goethe. Als ich hinaufkam, hörte ich in dem größeren Zimmer sehr laut und munter reden und scherzen. Der Bediente sagte mir, die junge polnische Dame sei dort zu Tisch gewesen und die Gesellschaft noch beisammen. Ich wollte wieder gehen, allein er sagte, er habe den Befehl, mich zu melden; auch wäre es seinem Herrn vielleicht lieb, weil es schon spät sei. Ich ließ ihn daher gewähren und wartete ein Weilchen, wo denn Goethe sehr heiter herauskam und mit mir gegenüber in sein Zimmer ging. Mein Besuch schien ihm angenehm zu sein. Er ließ sogleich eine Flasche Wein bringen, wovon er mir einschenkte und auch sich selber gelegentlich.

»Ehe ich es vergesse,«sagte er dann, indem er auf dem Tisch etwas suchte, »hier haben Sie ein Billet ins Konzert. Madame Szymanowska wird morgen abend im Saale des Stadthauses ein öffentliches Konzert geben; das dürfen Sie ja nicht versäumen.« Ich sagte ihm, daß ich meine Torheit von neulich nicht zum zweiten Mal begehen würde. »Sie soll sehr gut gespielt haben«, fügte ich hinzu. »Ganz vortrefflich!« sagte Goethe. »Wohl so gut wie Hummel?« fragte ich. »Sie müssen bedenken,« sagte Goethe, »daß sie nicht allein eine große Virtuosin, sondern zugleich ein schönes Weib ist; da kommt es uns denn vor, als ob alles anmutiger wäre; sie hat eine meisterhafte Fertigkeit, man muß erstaunen!« – »Aber auch in der Kraft groß?« fragte ich. »Ja, auch in der Kraft,« sagte Goethe, »und das ist eben das Merkwürdigste an ihr, weil man das sonst bei Frauenzimmern gewöhnlich nicht findet.« Ich sagte, daß ich mich sehr freue, sie nun doch noch zu hören.

Sekretär Kräuter trat herein und referierte in Bibliotheksangelegenheiten. Als er gegangen war, lobte Goethe seine große Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit in Geschäften.

Ich brachte sodann das Gespräch auf die im Jahre 1797 über Frankfurt und Stuttgart gemachte Reise in die Schweiz, wovon er mir die Manuskripte in drei Heften dieser Tage mitgeteilt und die ich bereits fleißig studiert hatte. Ich erwähnte, wie er damals mit Meyer so viel über die Gegenstände der bildenden Kunst nachgedacht.

»Ja,« sagte Goethe, »was ist auch wichtiger als die Gegenstände, und was ist die ganze Kunstlehre ohne sie. Alles Talent ist verschwendet, wenn der Gegenstand nichts taugt. Und eben weil dem neuern Künstler die würdigen Gegenstände fehlen, so hapert es auch so mit aller Kunst der neueren Zeit. Darunter leiden wir alle; ich habe auch meine Modernität nicht verleugnen können.

Die wenigsten Künstler«, fuhr er fort, »sind über diesen Punkt im klaren und wissen, was zu ihrem Frieden dient. Da malen sie z. B. meinen ›Fischer‹ und bedenken nicht, daß sich das gar nicht malen lasse. Es ist ja in dieser Ballade bloß das Gefühl des Wassers ausgedrückt, das Anmutige, was uns im Sommer lockt, uns zu baden; weiter liegt nichts darin, und wie läßt sich das malen!«

Ich erwähnte ferner, daß ich mich freue, wie er auf jener Reise an allem Interesse genommen und alles aufgefaßt habe: Gestalt und Lage der Gebirge und ihre Steinarten; Boden, Flüsse, Wolken, Luft, Wind und Wetter; dann Städte und ihre Entstehung und sukzessive Bildung; Baukunst, Malerei, Theater; städtische Einrichtung und Verwaltung; Gewerbe, Ökonomie, Straßenbau; Menschenrasse, Lebensart, Eigenheiten; dann wieder Politik und Kriegsangelegenheiten, und so noch hundert andere Dinge.

Goethe antwortete: »Aber Sie finden kein Wort über Musik, und zwar deswegen nicht, weil das nicht in meinem Kreise lag. Jeder muß wissen, worauf er bei einer Reise zu sehen hat und was seine Sache ist.«

Der Herr Kanzler trat herein. Er sprach einiges mit Goethe und äußerte sich dann gegen mich sehr wohlwollend und mit vieler Einsicht über meine kleine Schrift, die er in diesen Tagen gelesen. Er ging dann bald wieder zu den Damen hinüber, wo, wie ich hörte, der Flügel gespielt wurde.

Als er gegangen war, sprach Goethe sehr gut über ihn und sagte dann: »Alle diese vortrefflichen Menschen, zu denen Sie nun ein angenehmes Verhältnis haben, das ist es, was ich eine Heimat nenne, zu der man immer gerne wieder zurückkehrt.«

Ich erwiderte ihm, daß ich bereits den wohltätigen Einfluß meines hiesigen Aufenthaltes zu spüren beginne, daß ich aus meinen bisherigen ideellen und theoretischen Richtungen nach und nach herauskomme und immer mehr den Wert des augenblicklichen Zustandes zu schätzen wisse.

»Das müßte schlimm sein,« sagte Goethe, »wenn Sie das nicht sollten. Beharren Sie nur dabei und halten Sie immer an der Gegenwart fest. Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.«

Es trat eine kleine Pause ein; dann brachte ich das Gespräch auf Tiefurt, und in welcher Art es etwa darzustellen. »Es ist ein mannigfaltiger Gegenstand,« sagte ich, »und schwer, ihm eine durchgreifende Form zu geben. Am bequemsten wäre es mir, ihn in Prosa zu behandeln.«

»Dazu,« sagte Goethe, »ist der Gegenstand nicht bedeutend genug. Die sogenannte didaktisch-beschreibende Form würde zwar im ganzen die zu wählende sein, allein auch sie ist nicht durchgreifend passend. Am besten ist es, Sie stellen den Gegenstand in zehn bis zwölf kleinen einzelnen Gedichten dar, in Reimen, aber in mannigfaltigen Versarten und Formen, so wie es die verschiedenen Seiten und Ansichten verlangen, wodurch denn das Ganze wird umschrieben und beleuchtet sein.« Diesen Rat ergriff ich als zweckmäßig. »Ja, was hindert Sie, dabei auch einmal dramatisch zu verfahren und ein Gespräch etwa mit dem Gärtner führen zu lassen? Und durch diese Zerstückelung macht man es sich leicht und kann besser das Charakteristische der verschiedenen Seiten des Gegenstandes ausdrücken. Ein umfassendes größeres Ganze dagegen ist immer schwierig, und man bringt selten etwas Vollendetes zustande.«


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