Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Mittwoch, den 20. Juni 1827

Der Familientisch zu fünf Kuverts stand gedeckt, die Zimmer waren leer und kühl, welches bei der großen Hitze sehr wohl tat. Ich trat in das geräumige, an den Speisesaal angrenzende Zimmer, worin der gewirkte Fußteppich liegt und die kolossale Büste der Juno steht. Ich war nicht lange allein auf und ab gegangen, als Goethe, aus seinem Arbeitszimmer kommend, hereintrat und mich in seiner herzlichen Art liebevoll begrüßte und anredete. Er setzte sich auf einen Stuhl am Fenster. »Nehmen Sie sich auch ein Stühlchen,« sagte er, »und setzen Sie sich zu mir, wir wollen ein wenig reden, bis die übrigen kommen. Es ist mir lieb, daß Sie doch auch den Grafen Sternberg bei mir haben kennen gelernt; er ist wieder abgereiset, und ich bin nun ganz wieder in der gewohnten Tätigkeit und Ruhe.«

»Die Persönlichkeit des Grafen«, sagte ich, »ist mir sehr bedeutend erschienen, nicht weniger seine großen Kenntnisse; denn das Gespräch mochte sich lenken, wohin es wollte, er war überall zu Hause und sprach über alles gründlich und umsichtig mit großer Leichtigkeit.«

»Ja,« sagte Goethe, »er ist ein höchst bedeutender Mann, und sein Wirkungskreis und seine Verbindungen in Deutschland sind groß. Als Botaniker ist er durch seine ›Flora subterranea‹ in ganz Europa bekannt; so auch ist er als Mineraloge von großer Bedeutung. Kennen Sie seine Geschichte?« – »Nein,« sagte ich, »aber ich möchte gerne etwas über ihn erfahren. Ich sah ihn als Grafen und Weltmann, zugleich als vielseitigen tiefen Gelehrten: dieses ist mir ein Problem, das ich gerne möchte gelöset sehen.« Goethe erzählte mir darauf, wie der Graf, als Jüngling zum geistlichen Stande bestimmt, in Rom seine Studien begonnen, darauf aber, nachdem Östreich gewisse Vergünstigungen zurückgenommen, nach Neapel gegangen sei. Und so erzählte Goethe weiter, gründlich, interessant und bedeutend, ein merkwürdiges Leben, der Art, daß es die ›Wanderjahre‹ zieren würde, das ich aber hier zu wiederholen mich nicht geschickt fühle. Ich war höchst glücklich, ihm zuzuhören, und dankte ihm mit meiner ganzen Seele. Das Gespräch lenkte sich nun auf die böhmischen Schulen und ihre großen Vorzüge, besonders in bezug auf eine gründliche ästhetische Bildung.

Herr und Frau von Goethe und Fräulein Ulrike von P. waren indessen auch hereingekommen, und wir setzten uns zu Tisch. Die Gespräche wechselten heiter und mannigfaltig, besonders aber waren die Frömmler einiger norddeutschen Städte ein oft wiederkehrender Gegenstand. Es ward bemerkt, daß diese pietistischen Absonderungen ganze Familien miteinander uneins gemacht und zersprengt hätten. Ich konnte einen ähnlichen Fall erzählen, wo ich fast einen trefflichen Freund verloren, weil es ihm nicht gelingen wollen, mich zu seiner Meinung zu bekehren. »Dieser«, sagte ich, »war ganz von dem Glauben durchdrungen, daß alles Verdienst und alle gute Werke nichts seien, und daß der Mensch bloß durch die Gnade Christi ein gutes Verhältnis zur Gottheit gewinnen könne.« – »Etwas Ähnliches«, sagte Frau von Goethe, »hat auch eine Freundin zu mir gesagt, aber ich weiß noch immer nicht, was es mit diesen guten Werken und dieser Gnade für eine Bewandtnis hat.«

»So wie alle diese Dinge«, sagte Goethe, »heutiges Tages in der Welt in Kurs und Gespräch sind, ist es nichts als ein Mantsch, und vielleicht niemand von euch weiß, wo es herkommt. Ich will es euch sagen. Die Lehre von den guten Werken, daß nämlich der Mensch durch Gutestun, Vermächtnisse und milde Stiftungen eine Sünde abverdienen und sich überhaupt in der Gnade Gottes dadurch heben könne, ist katholisch. Die Reformatoren aber, aus Opposition, verwarfen diese Lehre und setzten dafür an die Stelle, daß der Mensch einzig und allein trachten müsse, die Verdienste Christi zu erkennen und sich seiner Gnaden teilhaftig zu machen, welches denn freilich auch zu guten Werken führe. So ist es; aber heutiges Tags wird alles durcheinander gemengt und verwechselt, und niemand weiß, woher die Dinge kommen.«

Ich bemerkte mehr in Gedanken, als daß ich es aussprach, daß die verschiedene Meinung in Religionssachen doch von jeher die Menschen entzweit und zu Feinden gemacht habe, ja daß sogar der erste Mord durch eine Abweichung in der Verehrung Gottes herbeigeführet sei. Ich sagte, daß ich dieser Tage Byrons ›Kain‹ gelesen und besonders den dritten Akt und die Motivierung des Totschlages bewundert habe.

»Nicht wahr,« sagte Goethe, »das ist vortrefflich motiviert! Es ist von so einziger Schönheit, daß es in der Welt nicht zum zweiten Male vorhanden ist.«

»Der ›Kain‹«, sagte ich, »war doch anfänglich in England verboten, jetzt aber lieset ihn jedermann, und die reisenden jungen Engländer führen gewöhnlich einen kompletten Byron mit sich.«

»Es ist auch Torheit,« sagte Goethe, »denn im Grunde steht im ganzen ›Kain‹ doch nichts, als was die englischen Bischöfe selber lehren.«

Der Kanzler ließ sich melden und trat herein und setzte sich zu uns an den Tisch. So auch kamen Goethes Enkel, Walter und Wolfgang, nacheinander gesprungen. Wolf schmiegte sich an den Kanzler. »Hole dem Herrn Kanzler«, sagte Goethe, »dein Stammbuch und zeige ihm deine Prinzeß und was dir der Graf Sternberg geschrieben.« Wolf sprang hinauf und kam bald mit dem Buche zurück. Der Kanzler betrachtete das Porträt der Prinzeß mit beigeschriebenen Versen von Goethe. Er durchblätterte das Buch ferner und traf auf Zelters Inschrift und las laut heraus: Lerne gehorchen!

»Das ist doch das einzige vernünftige Wort,« sagte Goethe lachend, »was im ganzen Buche steht. Ja, Zelter ist immer grandios und tüchtig! Ich gehe jetzt mit Riemer seine Briefe durch, die ganz unschätzbare Sachen enthalten. Besonders sind die Briefe, die er mir auf Reisen geschrieben, von vorzüglichem Wert; denn da hat er als tüchtiger Baumeister und Musikus den Vorteil, daß es ihm nie an bedeutenden Gegenständen des Urteils fehlt. Sowie er in eine Stadt eintritt, stehen die Gebäude vor ihm und sagen ihm, was sie Verdienstliches und Mangelhaftes an sich tragen. Sodann ziehen die Musikvereine ihn sogleich in ihre Mitte und zeigen sich dem Meister in ihren Tugenden und Schwächen. Wenn ein Geschwindschreiber seine Gespräche mit seinen musikalischen Schülern aufgeschrieben hätte, so besäßen wir etwas ganz Einziges in seiner Art. Denn in diesen Dingen ist Zelter genial und groß und trifft immer den Nagel auf den Kopf.«


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