Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Mittwoch, den 16. Dezember 1829

Heute nach Tisch las Goethe mir die zweite Szene des zweiten Akts von ›Faust‹, wo Mephistopheles zu Wagner geht, der durch chemische Künste einen Menschen zu machen im Begriff ist. Das Werk gelingt, der Homunkulus erscheint in der Flasche als leuchtendes Wesen und ist sogleich tätig. Wagners Fragen über unbegreifliche Dinge lehnt er ab, das Räsonieren ist nicht seine Sache; er will handeln, und da ist ihm das Nächste unser Held Faust, der in seinem paralysierten Zustande einer höheren Hülfe bedarf. Als ein Wesen, dem die Gegenwart durchaus klar und durchsichtig ist, sieht der Homunkulus das Innere des schlafenden Faust, den ein schöner Traum von der Leda beglückt, wie sie, in anmutiger Gegend badend, von Schwänen besucht wird. Indem der Homunkulus diesen Traum ausspricht, erscheint vor unserer Seele das reizendste Bild. Mephistopheles sieht davon nichts, und der Homunkulus verspottet ihn wegen seiner nordischen Natur.

»Überhaupt«, sagte Goethe, »werden Sie bemerken, daß der Mephistopheles gegen den Homunkulus in Nachteil zu stehen kommt, der ihm an geistiger Klarheit gleicht und durch seine Tendenz zum Schönen und förderlich Tätigen so viel vor ihm voraus hat. Übrigens nennt er ihn Herr Vetter; denn solche geistige Wesen wie der Homunkulus, die durch eine vollkommene Menschwerdung noch nicht verdüstert und beschränkt worden, zählt man zu den Dämonen, wodurch denn unter beiden eine Art von Verwandtschaft existiert.«

»Gewiß«, sagte ich, »erscheint der Mephistopheles hier in einer untergeordneten Stellung; allein ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß er zur Entstehung des Homunkulus heimlich gewirkt hat, so wie wir ihn bisher kennen und wie er auch in der Helena immer als heimlich wirkendes Wesen erscheint. Und so hebt er sich denn im ganzen wieder und kann sich in seiner superioren Ruhe im einzelnen wohl etwas gefallen lassen.«

»Sie empfinden das Verhältnis sehr richtig,« sagte Goethe; »es ist so, und ich habe schon gedacht, ob ich nicht dem Mephistopheles, wie er zu Wagner geht und der Homunkulus im Werden ist, einige Verse in den Mund legen soll, wodurch seine Mitwirkung ausgesprochen und dem Leser deutlich würde.«

»Das könnte nichts schaden«, sagte ich. »Angedeutet jedoch ist es schon, indem Mephistopheles die Szene mit den Worten schließt:

Am Ende hängen wir doch ab
Von Kreaturen, die wir machten.«

»Sie haben recht,« sagte Goethe, »dies könnte dem Aufmerkenden fast genug sein; indes will ich doch noch auf einige Verse sinnen.«

»Aber«, sagte ich, »jenes Schlußwort ist ein großes, das man nicht so leicht ausdenken wird.«

»Ich dächte,« sagte Goethe, »man hätte eine Weile daran zu zehren. Ein Vater, der sechs Söhne hat, ist verloren, er mag sich stellen, wie er will. Auch Könige und Minister, die viele Personen zu großen Stellen gebracht haben, mögen aus ihrer Erfahrung sich etwas dabei denken können.«

Fausts Traum von der Leda trat mir wieder vor die Seele, und ich übersah dieses im Geist als einen höchst bedeutenden Zug in der Komposition.

»Es ist wunderbar,« sagte ich, »wie in einem solchen Werke die einzelnen Teile aufeinander sich beziehen, aufeinander wirken und einander ergänzen und heben. Durch diesen Traum von der Leda hier im zweiten Akt gewinnt später die Helena erst das eigentliche Fundament. Dort ist immer von Schwänen und einer Schwanerzeugten die Rede, aber hier erscheint diese Handlung selbst; und wenn man nun mit dem sinnlichen Eindruck solcher Situation später zur Helena kommt, wie wird dann alles deutlicher und vollständiger erscheinen!«

Goethe gab mir recht, und es schien ihm lieb, daß ich dieses bemerkte. »So auch«, sagte er, »werden Sie finden, daß schon immer in diesen früheren Akten das Klassische und Romantische anklingt und zur Sprache gebracht wird, damit es, wie auf einem steigenden Terrain, zur Helena hinaufgehe, wo beide Dichtungsformen entschieden hervortreten und eine Art von Ausgleichung finden.«

»Die Franzosen«, fuhr Goethe fort, »fangen nun auch an, über diese Verhältnisse richtig zu denken. ›Es ist alles gut und gleich,‹ sagen sie, ›Klassisches wie Romantisches, es kommt nur darauf an, daß man sich dieser Formen mit Verstand zu bedienen und darin vortrefflich zu sein vermöge. So kann man auch in beiden absurd sein, und dann taugt das eine so wenig wie das andere.‹ Ich dächte, das wäre vernünftig und ein gutes Wort, womit man sich eine Weile beruhigen könnte.«


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