Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Mittwoch, den 20. [Dienstag, den 19.] April 1825

Goethe zeigte mir diesen Abend einen Brief eines jungen Studierenden, der ihn um den Plan zum zweiten Teile des ›Faust‹ bittet, indem er den Vorsatz habe, dieses Werk seinerseits zu vollenden. Trocken, gutmütig und aufrichtig geht er mit seinen Wünschen und Absichten frei heraus und äußert zuletzt ganz unverhohlen, daß es zwar mit allen übrigen neuesten literarischen Bestrebungen nichts sei, daß aber in ihm eine neue Literatur frisch erblühen solle.

Wenn ich im Leben auf einen jungen Menschen stieße, der Napoleons Welteroberungen fortzusetzen sich rüstete, oder auf einen jungen Bau-Dilettanten, der den Kölner Dom zu vollenden sich anschickte, so würde ich mich über diese nicht mehr verwundern und sie nicht verrückter und lächerlicher finden, als eben diesen jungen Liebhaber der Poesie, der Wahn genug besitzt, aus bloßer Neigung den zweiten Teil des ›Faust‹ machen zu können.

Ja ich halte es für möglicher, den Kölner Dom auszubauen, als in Goethes Sinne den ›Faust‹ fortzusetzen! Denn jenem ließe sich doch allenfalls mathematisch beikommen, er steht uns doch sinnlich vor Augen und läßt sich mit Händen greifen. Mit welchen Schnüren und Maßen aber wollte man zu einem unsichtbaren geistigen Werk reichen, das durchaus auf dem Subjekt beruht, bei welchem alles auf das Aperçu ankommt, das zum Material ein großes selbstdurchlebtes Leben und zur Ausführung eine jahrelang geübte, zur Meisterschaft gesteigerte Technik erfordert?

Wer ein solches Unternehmen für leicht, ja nur für möglich hält, hat sicher nur ein sehr geringes Talent, eben weil er keine Ahndung vom Hohen und Schwierigen besitzt; und es ließe sich sehr wohl behaupten, daß, wenn Goethe seinen ›Faust‹ bis auf eine Lücke von wenigen Versen selbst vollenden wollte, ein solcher Jüngling nicht fähig sein würde, nur die wenigen Verse schicklich hineinzubringen.

Ich will nicht untersuchen, woher unserer jetzigen Jugend die Einbildung gekommen, daß sie dasjenige als etwas Angeborenes bereits mit sich bringe, was man bisher nur auf dem Wege vieljähriger Studien und Erfahrungen erlangen konnte, aber so viel glaube ich sagen zu können, daß die in Deutschland jetzt so häufig vorkommenden Äußerungen eines alle Stufen allmählicher Entwickelung keck überschreitenden Sinnes zu künftigen Meisterwerken wenige Hoffnung machen.

»Das Unglück ist«, sagte Goethe, »im Staat, daß niemand leben und genießen, sondern jeder regieren, und in der Kunst, daß niemand sich des Hervorgebrachten freuen, sondern jeder seinerseits selbst wieder produzieren will.

Auch denkt niemand daran, sich von einem Werk der Poesie auf seinem eigenen Wege fördern zu lassen, sondern jeder will sogleich wieder dasselbige machen.

Es ist ferner kein Ernst da, der ins Ganze geht, kein Sinn, dem Ganzen etwas zuliebe zu tun, sondern man trachtet nur, wie man sein eigenes Selbst bemerklich mache und es vor der Welt zu möglichstes Evidenz bringe. Dieses falsche Bestreben zeigt sich überall, und man tut es den neuesten Virtuosen nach, die nicht sowohl solche Stücke zu ihrem Vortrage wählen, woran die Zuhörer reinen musikalischen Genuß haben, als vielmehr solche, worin der Spielende seine erlangte Fertigkeit könne bewundern lassen. Überall ist es das Individuum, das sich herrlich zeigen will, und nirgends trifft man auf ein redliches Streben, das dem Ganzen und der Sache zuliebe sein eigenes Selbst zurücksetzte.

Hiezu kommt sodann, daß die Menschen in ein pfuscherhaftes Produzieren hineinkommen, ohne es selbst zu wissen. Die Kinder machen schon Verse und gehen so fort und meinen als Jünglinge, sie könnten was, bis sie zuletzt als Männer zur Einsicht des Vortrefflichen gelangen, was da ist, und über die Jahre erschrecken, die sie in einer falschen, höchst unzulänglichen Bestrebung verloren haben.

Ja, viele kommen zur Erkenntnis des Vollendeten und ihrer eigenen Unzulänglichkeit nie und produzieren Halbheiten bis an ihr Ende.

Gewiß ist es, daß wenn jeder früh genug zum Bewußtsein zu bringen wäre, wie die Welt von dem Vortrefflichsten so voll ist und was dazu gehört, diesen Werken etwas Gleiches an die Seite zu setzen, daß sodann von jetzigen hundert dichtenden Jünglingen kaum ein einziger Beharren und Talent und Mut genug in sich fühlen würde, zu Erreichung einer ähnlichen Meisterschaft ruhig fortzugehen.

Viele junge Maler würden nie einen Pinsel in die Hand genommen haben; wenn sie früh genug gewußt und begriffen hätten, was denn eigentlich ein Meister wie Raffael gemacht hat.«

Das Gespräch lenkte sich auf die falschen Tendenzen im allgemeinen, und Goethe fuhr fort:

»So war meine praktische Tendenz zur bildenden Kunst eigentlich eine falsche, denn ich hatte keine Naturanlage dazu und konnte sich also dergleichen nicht aus mir entwickeln. Eine gewisse Zärtlichkeit gegen die landschaftlichen Umgebungen war mir eigen und daher meine ersten Anfänge eigentlich hoffnungsvoll. Die Reise nach Italien zerstörte dieses praktische Behagen; eine weite Aussicht trat an die Stelle, aber die liebevolle Fähigkeit ging verloren, und da sich ein künstlerisches Talent weder technisch noch ästhetisch entwickeln konnte, so zerfloß mein Bestreben zu nichts.

Man sagt mit Recht,« fuhr Goethe fort, »daß die gemeinsame Ausbildung menschlicher Kräfte zu wünschen und auch das Vorzüglichste sei. Der Mensch aber ist dazu nicht geboren, jeder muß sich eigentlich als ein besonderes Wesen bilden, aber den Begriff zu erlangen suchen, was alle zusammen sind.«

Ich dachte hiebei an den ›Wilhelm Meister‹, wo gleichfalls ausgesprochen ist, daß nur alle Menschen zusammengenommen die Menschheit ausmachen und wir nur insofern zu achten sind, als wir zu schätzen wissen.

So auch dachte ich an die ›Wanderjahre‹, wo Montan immer nur zu einem Handwerk rät und dabei ausspricht, daß jetzt die Zeit der Einseitigkeiten sei und man den glücklich zu preisen habe, der dieses begreife und für sich und andere in solchem Sinne wirke.

Nun aber fragt es sich, was jemand für ein Handwerk habe, damit er die Grenzen nicht überschreite, aber auch nicht zu wenig tue.

Wessen Sache es sein wird, viele Fächer zu übersehen, zu beurteilen, zu leiten, der soll auch eine möglichste Einsicht in viele Fächer zu erlangen suchen. So kann ein Fürst, ein künftiger Staatsmann sich nicht vielseitig genug ausbilden, denn die Vielseitigkeit gehört zu seinem Handwerk.

Gleicherweise soll der Poet nach mannigfaltiger Kenntnis streben; denn die ganze Welt ist sein Stoff, den er zu handhaben und auszusprechen verstehen muß.

Aber der Dichter soll kein Maler sein wollen, sondern sich begnügen, die Welt durch das Wort wiederzugeben; so wie er dem Schauspieler überläßt, sie durch persönliche Darstellung uns vor die Augen zu bringen.

Denn Einsicht und Lebenstätigkeit sollen wohl unterschieden werden, und man soll bedenken, daß jede Kunst, sobald es auf die Ausübung ankommt, etwas sehr Schwieriges und Großes ist, worin es zur Meisterschaft zu bringen, ein eigenes Leben verlangt wird.

So hat Goethe nach vielseitigsten Einsicht gestrebt, aber in seiner Lebenstätigkeit hat er sich nur auf eins beschränkt. Nur eine einzige Kunst hat er geübt, und zwar meisterhaft geübt, nämlich die: deutsch zu schreiben. Daß der Stoff, den er aussprach, vielseitiger Natur war, ist eine andere Sache.

Gleicherweise soll man Ausbildung von Lebenstätigkeit wohl unterscheiden.

So gehört zur Ausbildung des Dichters, daß sein Auge zur Auffassung der äußeren Gegenstände auf alle Weise geübt werde. Und wenn Goethe seine praktische Tendenz zur bildenden Kunst, insofern er sie zu seiner Lebenstätigkeit hätte machen wollen, eine falsche nennt, so war sie wiederum ganz am Orte, insofern es seine Ausbildung als Dichter galt.

»Die Gegenständlichkeit meiner Poesie«, sagte Goethe, »bin ich denn doch jener großen Aufmerksamkeit und Übung des Auges schuldig geworden; so wie ich auch die daraus gewonnene Kenntnis hoch anzuschlagen habe.«

Hüten aber soll man sich, die Grenzen seiner Ausbildung zu weit zu stecken.

»Die Naturforscher«, sagte Goethe, »werden am ersten dazu verführt, weil zur Betrachtung der Natur wirklich eine sehr harmonische allgemeine Ausbildung erfordert wird.«

Dagegen aber soll sich jeder, sobald es die Kenntnisse betrifft, die zu seinem Fache unerläßlich gehören, vor Beschränkung und Einseitigkeit zu bewahren suchen.

Ein Dichter, der für das Theater schreiben will, soll Kenntnis der Bühne haben, damit er die Mittel erwäge, die ihm zu Gebote stehen, und er überhaupt wisse, was zu tun und zu lassen sei; so wie es dem Opernkomponisten nicht an Einsicht der Poesie fehlen darf, damit er das Schlechte vom Guten unterscheiden könne und seine Kunst nicht an etwas Unzulänglichem verschwendet werde.

»Carl Maria von Weber«, sagte Goethe, »mußte die ›Euryanthe‹ nicht komponieren; er mußte gleich sehen, daß dies ein schlechter Stoff sei, woraus sich nichts machen lasse. Diese Einsicht dürfen wir bei jedem Komponisten, als zu seiner Kunst gehörig, voraussetzen.«

So soll der Maler Kenntnis in Unterscheidung der Gegenstände haben; denn es gehört zu seinem Fache, daß er wisse, was er zu malen habe und was nicht.

»Im übrigen aber«, sagte Goethe, »ist es zuletzt die größte Kunst, sich zu beschränken und zu isolieren.«

So hat er die ganze Zeit, die ich in seiner Nähe bin, mich stets vor allen ableitenden Richtungen zu bewahren und mich immer auf ein einziges Fach zu konzentrieren gesucht. Zeigte ich etwa Neigung, mich in Naturwissenschaften umzutun, so war immer sein Rat, es zu unterlassen und mich für jetzt bloß an die Poesie zu halten. Wollte ich ein Buch lesen, wovon er wußte, daß es mich auf meinem jetzigen Wege nicht weiter brächte, so widerrief er es mir stets, indem er sagte, es sei für mich von keinem praktischen Nutzen.

»Ich habe gar zu viele Zeit auf Dinge verwendet,« sagte er eines Tages, »die nicht zu meinem eigentlichen Fache gehörten. Wenn ich bedenke, was Lopez de Vega gemacht hat, so kommt mir die Zahl meiner poetischen Werke sehr klein vor. Ich hätte mich mehr an mein eigentliches Metier halten sollen.

Hätte ich mich nicht so viel mit Steinen beschäftiget«, sagte er ein andermal, »und meine Zeit zu etwas Besserem verwendet, ich könnte den schönsten Schmuck von Diamanten haben.«

Aus gleicher Ursache schätzt und rühmt er an seinem Freunde Meyer, daß dieser ausschließlich auf das Studium der Kunst sein ganzes Leben verwendet habe, wodurch man ihm denn die höchste Einsicht in diesem Fache zugestehen müsse.

»Ich bin auch in solcher Richtung frühzeitig hergekommen«, sagte Goethe, »und habe auch fast ein halbes Leben an Betrachtung und Studium von Kunstwerken gewendet, aber Meyern kann ich es denn doch in gewisser Hinsicht nicht gleichtun. Ich hüte mich daher auch wohl, ein neues Gemälde diesem Freunde sogleich zu zeigen, sondern ich sehe zuvor zu, wie weit ich ihm meinerseits beikommen kann. Glaube ich nun, über das Gelungene und Mangelhafte völlig im klaren zu sein, so zeige ich es Meyern, der denn freilich weit schärfer sieht und dem in manchem Betracht noch ganz andere Lichter dabei aufgehen. Und so sehe ich immer von neuem, was es sagen will und was dazu gehört, um in einer Sache durchaus groß zu sein. In Meyern liegt eine Kunsteinsicht von ganzen Jahrtausenden.«

Nun aber könnte man fragen, warum denn Goethe, wenn er so lebhaft durchdrungen sei, daß der Mensch nur ein Einziges tun solle, warum denn gerade er selbst sein Leben an so höchst vielseitige Richtungen verwendet habe.

Hierauf antworte ich, daß, wenn Goethe jetzt in die Welt käme und er die poetischen und wissenschaftlichen Bestrebungen seiner Nation bereits auf der Höhe vorfände, auf welche sie jetzt, und zwar größtenteils durch ihn, gebracht sind, er sodann sicher zu so mannigfaltigen Richtungen keine Veranlassung finden und sich gewiß auf ein einziges Fach beschränken würde.

So aber lag es nicht allein in seiner Natur, nach allen Seiten hin zu forschen und sich für die irdischen Dinge klar zu machen, sondern es lag auch im Bedürfnis der Zeit, das Wahrgenommene auszusprechen.

Er tat bei seinem Erscheinen zwei große Erbschaften: der Irrtum und die Unzulänglichkeit fielen ihm zu, daß er sie hinwegräume, und verlangten seine lebenslänglichen Bemühungen nach vielen Seiten.

Wäre die Newtonische Theorie Goethen nicht als ein großer, dem menschlichen Geiste höchst schädlicher Irrtum erschienen, glaubt man denn, daß es ihm je eingefallen sein würde, eine ›Farbenlehre‹ zu schreiben und vieljährige Bemühungen einer solchen Nebenrichtung zu widmen? Keineswegs! Sondern sein Wahrheitsgefühl im Konflikt mit dem Irrtum war es, das ihn bewog, sein reines Licht auch in diese Dunkelheiten leuchten zu lassen.

Ein Gleiches ist von seiner Metamorphosenlehre zu sagen, worin wir ihm jetzt ein Muster wissenschaftlicher Behandlung verdanken, welches Werk zu schreiben Goethen aber gewiß nie eingefallen sein würde, wenn er seine Zeitgenossen bereits auf dem Wege zu einem solchen Ziele erblickt hätte.

Ja sogar von seinen vielseitigen poetischen Bestrebungen möchte solches gelten. Denn es ist sehr die Frage, ob Goethe je einen Roman würde geschrieben haben, wenn ein Werk wie der ›Wilhelm Meister‹ bei seiner Nation bereits wäre vorhanden gewesen. Und sehr die Frage, ob er in solchem Fall sich nicht vielleicht ganz ausschließlich der dramatischen Poesie gewidmet hätte.

Was er in solchem Fall einer einseitigen Richtung alles hervorgebracht und gewirkt haben würde, ist gar nicht abzusehen; so viel ist jedoch gewiß, daß, sobald man aufs Ganze sieht, kein Verständiger wünschen wird, daß Goethe eben nicht alles dasjenige möchte hervorgebracht haben, wozu ihn zu treiben nun einmal seinem Schöpfer gefallen hat.


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