Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Sonnabend, den 11. Oktober 1828

Das gedachte ›Foreign Review‹ des Herrn Fraser enthielt unter vielen bedeutenden und interessanten Gegenständen auch einen höchst würdigen Aufsatz über Goethe von Carlyle, den ich diesen Morgen studierte. Ich ging mittags ein wenig früher zu Tisch, um vor der Ankunft der übrigen Gäste mich mit Goethe darüber zu bereden.

Ich fand ihn, wie ich wünschte, noch allein, in Erwartung der Gesellschaft. Er trug seinen schwarzen Frack und Stern, worin ich ihn so gerne sehe; er schien heute besonders jugendlich heiter, und wir fingen sogleich an, von unserm gemeinsamen Interesse zu reden. Goethe sagte mir, daß er Carlyles Aufsatz über ihn gleichfalls diesen Morgen betrachtet, und so waren wir denn imstande, über die Bestrebungen der Ausländer manche Worte des Lobes gegenseitig auszutauschen.

»Es ist eine Freude, zu sehen,« sagte Goethe, »wie die frühere Pedanterie der Schotten sich in Ernst und Gründlichkeit verwandelt hat. Wenn ich bedenke, wie die Edinburger vor noch nicht langen Jahren meine Sachen behandelt haben, und ich jetzt dagegen Carlyles Verdienste um die deutsche Literatur erwäge, so ist es auffallend, welch ein bedeutender Vorschritt zum Besseren geschehen ist.«

»An Carlyle«, sagte ich, »muß ich vor allem den Geist und Charakter verehren, der seinen Richtungen zum Grunde liegt. Es ist ihm um die Kultur seiner Nation zu tun, und da fragt er denn bei den literarischen Erzeugnissen des Auslandes, womit er seine Landsleute bekannt zu machen wünscht, weniger nach Künsten des Talents als nach der Höhe sittlicher Bildung, die aus solchen Werken zu gewinnen.«

»Ja,« sagte Goethe, »die Gesinnung, aus der er handelt, ist besonders schätzbar. Und wie ist es ihm Ernst! und wie hat er uns Deutsche studiert! Er ist in unserer Literatur fast besser zu Hause als wir selbst; zum wenigsten können wir mit ihm in unsern Bemühungen um das Englische nicht wetteifern.«

»Der Aufsatz«, sagte ich, »ist mit einem Feuer und Nachdruck geschrieben, daß man ihm wohl anmerkt, daß in England noch viele Vorurteile und Widersprüche zu bekämpfen sind. Den ›Wilhelm Meister‹ zumal scheinen übelwollende Kritiker und schlechte Übersetzer in kein günstiges Licht gebracht zu haben. Dagegen benimmt sich nun Carlyle sehr gut. Der dummen Nachrede, daß keine wahre Edelfrau den ›Meister‹ lesen dürfe, widerspricht er sehr heiter mit dem Beispiele der letzten Königin von Preußen, die sich mit dem Buche vertraut gemacht und die doch mit Recht für eine der ersten Frauen ihrer Zeit gelte.«

Verschiedene Tischgäste traten herein, die Goethe begrüßte. Er wendete seine Aufmerksamkeit mir wieder zu, und ich fuhr fort.

»Freilich«, sagte ich, »hat Carlyle den ›Meister‹ studiert, und so durchdrungen von dem Wert des Buches wie er ist, möchte er gerne, daß es sich allgemein verbreitete; er möchte gerne, daß jeder Gebildete davon gleichen Gewinn und Genuß hätte.«

Goethe zog mich an ein Fenster, um mir zu antworten.

»Liebes Kind,« sagte er, »ich will Ihnen etwas vertrauen, das Sie sogleich über vieles hinaushelfen und das Ihnen lebenslänglich zugute kommen soll. Meine Sachen können nicht popular werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen und die in ähnlichen Richtungen begriffen sind.« Er wollte weiterreden; eine junge Dame trat heran, ihn unterbrechend und ihn in ein Gespräch ziehend. Ich wendete mich zu anderen, worauf wir uns bald zu Tisch setzten.

Von dem, was gesprochen wurde, wüßte ich nichts zu sagen; Goethes Worte lagen mir im Sinn und beschäftigten ganz mein Inneres.

Freilich, dachte ich, ein Schriftsteller wie er, ein Geist von solcher Höhe, eine Natur von so unendlichem Umfang, wie soll der popular werden! Kann doch kaum ein kleiner Teil von ihm popular werden! Kaum ein Lied, das lustige Brüder und verliebte Mädchen singen und das für andere wiederum nicht da ist!

Und, recht besehen, ist es nicht mit allen außerordentlichen Dingen so? Ist denn Mozart popular? Und ist es denn Raffael? Und verhält sich nicht die Welt gegen so große Quellen überschwenglichen geistigen Lebens überall nur wie Naschende, die froh sind, hin und wieder ein weniges zu erhaschen, das ihnen eine Weile eine höhere Nahrung gewähre?

Ja, fuhr ich in meinen Gedanken fort, Goethe hat recht. Er kann seinem Umfange nach nicht popular werden, und seine Werke sind nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches suchen und die in ähnlichen Richtungen begriffen sind.

Sie sind im ganzen für betrachtende Naturen, die in die Tiefen der Welt und Menschheit zu dringen wünschen und seinen Pfaden nachgehen. Sie sind im einzelnen für leidenschaftlich Genießende, die des Herzens Wonne und Weh im Dichter suchen. Sie sind für junge Poeten, die lernen wollen, wie man sich ausdrücke und wie man einen Gegenstand kunstgemäß behandele. Sie sind für Kritiker, die darin ein Muster empfangen, nach welchen Maximen man urteilen solle, und wie man auch eine Rezension interessant und anmutig mache, so daß man sie mit Freuden lese. Seine Werke sind für den Künstler, weil sie ihm im allgemeinen den Geist aufklären und er im besonderen aus ihnen lernt, welche Gegenstände eine kunstgemäße Bedeutung haben, und was er demnach darstellen solle und was nicht. Sie sind für den Naturforscher, nicht allein, weil gefundene große Gesetze ihm überliefert werden, sondern auch vorzüglich, weil er darin eine Methode empfängt, wie ein guter Geist mit der Natur verfahren müsse, damit sie ihm ihre Geheimnisse offenbare.

Und so gehen denn alle wissenschaftlich und künstlerisch Strebenden bei den reichbesetzten Tafeln seiner Werke zu Gaste, und in ihren Wirkungen zeugen sie von der allgemeinen Quelle eines großen Lichtes und Lebens, aus der sie geschöpft haben.

Diese und ähnliche Gedanken gingen mir bei Tisch durch den Kopf. Ich dachte an einzelne Personen, an manchen wackeren deutschen Künstler, Naturforscher, Dichter und Kritiker, die einen großen Teil ihrer Bildung Goethen zu danken haben. Ich dachte an geistreiche Italiener, Franzosen und Engländer, die auf ihn ihre Augen richten und die in seinem Sinne handeln.

Unterdessen hatte man um mich her heiter gescherzt und gesprochen und es sich an guten Gerichten wohl sein lassen. Ich hatte auch mitunter ein Wörtchen mit dreingeredet, aber alles, ohne eigentlich bei der Sache zu sein. Eine Dame hatte eine Frage an mich gerichtet, worauf ich vielleicht nicht die beste Antwort mochte gegeben haben. Ich wurde geneckt.

»Laßt nur den Eckermann,« sagte Goethe, »er ist immer abwesend, außer wenn er im Theater sitzt.«

Man lachte auf meine Kosten; doch war es mir nicht unlieb. Ich war heute in meinem Gemüt besonders glücklich. Ich segnete mein Geschick, das mich nach manchen wunderlichen Fügungen den wenigen zugesellet hatte, die den Umgang und das nähere Vertrauen eines Mannes genießen, dessen Größe mir noch vor wenig Augenblicken lebhaft durch die Seele gegangen war, und den ich nun in seiner vollen Liebenswürdigkeit persönlich vor Augen hatte.

Biskuit und schöne Trauben wurden zum Nachtisch aufgetragen. Letztere waren aus der Ferne gesendet, und Goethe tat geheimnisvoll, woher sie gekommen. Er verteilte sie und reichte mir eine sehr reife über den Tisch. »Hier, mein Guter,« sagte er, »essen Sie von diesen Süßigkeiten und sei'n Sie vergnügt.« Ich ließ mir die Traube aus Goethes Händen wohlschmecken und war nun mit Leib und Seele völlig in seiner Nähe.

Man sprach vom Theater, von Wolffs Verdiensten, und wie viel Gutes von diesem trefflichen Künstler ausgegangen.

»Ich weiß sehr wohl,« sagte Goethe, »daß unsere hiesigen älteren Schauspieler manches von mir gelernt haben, aber im eigentlichen Sinne kann ich doch nur Wolff meinen Schüler nennen. Wie sehr er in meine Maximen eingedrungen war und wie er in meinem Sinne handelte, davon will ich einen Fall erzählen, den ich gerne wiederhole.

Ich war einst gewisser anderer Ursachen wegen auf Wolff sehr böse. Er hatte abends zu spielen, und ich saß in meiner Loge. Jetzt, dachte ich, sollst du ihm doch einmal recht aufpassen; es ist doch heute nicht die Spur einer Neigung in dir, die für ihn sprechen und ihn entschuldigen könnte. – Wolff spielte, und ich wendete mein geschärftes Auge nicht von ihm! Aber wie spielte er! wie war er sicher! wie war er fest! – Es war mir unmöglich, ihm nur den Schein eines Verstoßes gegen die Regeln abzulisten, die ich ihm eingepflanzt hatte, und ich konnte nicht umhin, ich mußte ihm wieder gut sein.«


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