Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Dritter Teil

Vorrede

Indem ich endlich diesen längst versprochenen dritten Teil meiner »Gespräche mit Goethe« abgeschlossen vor mir sehe, beglückt mich das freudige Gefühl überwundener großer Hindernisse.

Mein Fall war sehr schwierig. Er glich dem eines Schiffers, der nicht mit dem Winde segeln kann, der heute weht, sondern mit großer Geduld oft wochen- und monatelang einen Fahrwind erwarten muß, wie er vor Jahren geweht hat. – Als ich so glücklich war, die beiden ersten Teile zu schreiben, konnte ich gewissermaßen mit gutem Winde gehen, weil mir damals das frischgesprochene Wort noch in den Ohren klang und der lebendige Verkehr mit jenem wunderbaren Manne mich in dem Element einer Begeisterung erhielt, wodurch ich mich zum Ziele getragen fühlte wie auf Flügeln.

Jetzt aber, wo jene Stimme schon seit so viel Jahren verstummt ist und das Glück jener persönlichen Berührungen so weit hinter mir liegt, konnte ich die so nötige Begeisterung nur in solchen Stunden erlangen, wo es mir vergönnt war, in mein eigenes Innere zu gehen und in ungestörter Vertiefung das Vergangene wieder zu frischen Farben zu beleben, wo es denn anfing, sich zu regen, und ich große Gedanken und große Charakterzüge vor mir liegen sah, gleich Gebirgen, fernen zwar, aber deutlich und wie von der Sonne des wirklichen Tages beschienen.

So kam mir denn die Begeisterung aus der Freude am Großen; das einzelne des Ideenganges und mündlichen Ausdrucks ward wieder frisch, als ob ich es gestern erlebt hätte. Der lebendige Goethe war wieder da; ich hörte wieder den besonderen lieben Klang seiner Stimme, die mit keines anderen zu vergleichen. Ich sah ihn wieder abends in schwarzem Frack und Stern bei heller Erleuchtung seiner Zimmer in geselligem Kreise scherzen und lachen und heiteres Gespräch führen. Dann anderen Tages bei schönem Wetter war er im Wagen neben mir, im braunen Oberrock und blauer Tuchmütze, den hellgrauen Mantel über seine Kniee gelegt. Seine Gesichtsfarbe braun-gesund wie die frische Luft; sein Gespräch geistreich in die freie Welt hinein, das Geräusch des Wagens übertönend. Oder ich sah mich abends bei stillem Kerzenlicht wieder in sein Studierzimmer versetzt, wo er im weißen flanellenen Schlafrock am Tische mir gegenübersaß, milde wie die Stimmung eines gut verlebten Tages. Wir sprachen über große und gute Dinge, er kehrte das Edelste, was in seiner Natur lag, mir entgegen; mein Geist entzündete sich an dem seinigen. Es war zwischen uns die innigste Harmonie; er reichte mir über den Tisch herüber seine Hand, die ich drückte. Dann ergriff ich wohl ein neben mir stehendes gefülltes Glas, das ich, ohne etwas zu sagen, ihm zutrank, indem meine Blicke über den Wein hin in seinen Augen ruhten.

So war ich ihm in voller Lebendigkeit wieder zugesellt, und seine Worte klangen wieder wie ehemals.

Aber wie es auch sonst im Leben zu gehen pflegt, daß wir wohl eines geliebten Toten gedenken, doch bei dem Geräusch des fordernden Tages oft wochen- und monatelang nur flüchtig, und daß die stillen Augenblicke einer solchen Vertiefung, wo wir ein vor uns dahingegangenes Geliebte in der ganzen Frische des Lebens wieder zu besitzen glauben, zu den seltenen schönen Stunden gehören, so erging es mir auch mit Goethe.

Es vergingen oft Monate, wo meine Seele, durch Berührungen des täglichen Lebens hingenommen, für ihn tot war und er meinem Geiste mit keinem Worte zusprach. Und wiederum traten andere Wochen und Monate unfruchtbarer Stimmung ein, wo in meinem Gemüt nichts keimen und nichts blühen wollte. Solche nichtige Zeiten mußte ich mit großer Geduld nutzlos vorübergehen lassen, denn das in solchen Zuständen Geschriebene wäre nichts wert gewesen. Ich mußte vom guten Glück die Wiederkehr von Stunden erwarten, wo das Vergangene mir in voller Lebendigkeit gegenwärtig und mein Inneres an geistiger Kraft und sinnlichem Behagen auf einer Höhe stand, um zur Einkehr Goethescher Gedanken und Empfindungen eine würdige Behausung zu sein. Denn ich hatte es mit einem Helden zu tun, den ich nicht durfte sinken lassen. In der ganzen Milde der Gesinnung, in der vollen Klarheit und Kraft des Geistes und in der gewohnten Würde einer hohen Persönlichkeit mußte er erscheinen, um wahr zu sein – und das war keineswegs etwas Geringes!

Mein Verhältnis zu ihm war eigentümlicher Art und sehr zarter Natur. Es war das des Schülers zum Meister, das des Sohnes zum Vater, das des Bildungsbedürftigen zum Bildungsreichen. Er zog mich in seine Kreise und ließ mich an den geistigen und leiblichen Genüssen eines höheren Daseins teilnehmen. Oft sah ich ihn nur alle acht Tage, wo ich ihn in den Abendstunden besuchte; oft auch jeden Tag, wo ich mittags mit ihm, bald in größerer Gesellschaft, bald tête-à-tête zu Tisch zu sein das Glück hatte.

Seine Unterhaltung war mannigfaltig wie seine Werke. Er war immer derselbige und immer ein anderer. Bald okkupierte ihn irgendeine große Idee, und seine Worte quollen reich und unerschöpflich. Sie glichen oft einem Garten im Frühling, wo alles in Blüte stand und man, von dem allgemeinen Glanz geblendet, nicht daran dachte, sich einen Strauß zu pflücken. Zu anderen Zeiten dagegen fand man ihn stumm und einsilbig, als lagerte ein Nebel auf seiner Seele; ja es konnten Tage kommen, wo es war, als wäre er voll eisiger Kälte und als striche ein scharfer Wind über Reif- und Schneefelder. Und wiederum, wenn man ihn sah, war er wieder wie ein lachender Sommertag, wo alle Sänger des Waldes uns aus Büschen und Hecken entgegenjubeln, der Kuckuk durch blaue Lüfte ruft und der Bach durch blumige Auen rieselt. Dann war es eine Lust, ihn zu hören seine Nähe war dann beseligend, und das Herz erweiterte sich bei seinen Worten.

Winter und Sommer, Alter und Jugend schienen bei ihm im ewigen Kampf und Wechsel zu sein doch war es an ihm, dem Siebzig- bis Achtzigjährigen, wohl zu bewundern, daß die Jugend immer wieder obenauf war und jene angedeuteten Herbst- und Wintertage zu seltenen Ausnahmen gehörten.

Seine Selbstbeherrschung war groß, ja sie bildete eine hervorragende Eigentümlichkeit seines Wesens. Sie war eine Schwester jener hohen Besonnenheit, wodurch es ihm gelang, immer Herr seines Stoffes zu sein und seinen einzelnen Werken diejenige Kunstvollendung zu geben, die wir an ihnen bewundern. Durch eben jene Eigenschaft aber ward er, so wie in manchen seiner Schriften, so auch in manchen seiner mündlichen Äußerungen, oft gebunden und voller Rücksicht. Sobald aber in glücklichen Momenten ein mächtigerer Dämon in ihm rege wurde und jene Selbstbeherrschung ihn verließ, dann ward sein Gespräch jugendlich frei dahinbrausend, gleich einem aus der Höhe herabkommenden Bergstrome. In solchen Augenblicken sagte er das Größte und Beste, was in seiner reichen Natur lag, und von solchen Augenblicken ist es wohl zu verstehen, wenn seine früheren Freunde über ihn geäußert, daß sein gesprochenes Wort besser sei als sein geschriebenes und gedrucktes. So sagte Marmontel von Diderot, daß, wer diesen nur aus seinen Schriften gekannt, ihn nur halb gekannt, daß er aber, sobald er bei mündlicher Unterhaltung lebhaft geworden, einzig und hinreißend gewesen.

Darf ich nun hoffen, daß von jenen glücklichen Momenten in diesen Gesprächen manches festzuhalten mir gelungen, so mag es diesem Bande nicht weniger zugute kommen, daß darin an einigen Stellen eine doppelte Spiegelung von Goethes Persönlichkeit stattfindet, einmal nämlich gegen mich und dann gegen einen jungen Freund.

Herr Soret aus Genf, als freisinniger Republikaner zur Leitung der Erziehung Sr. Königlichen Hoheit des Erbgroßherzogs im Jahre 1822 nach Weimar berufen, hatte von gedachtem Jahre bis zu Goethes Tode zu ihm gleichfalls ein sehr nahes Verhältnis. Er war in Goethes Hause ein häufiger Tischgenosse, auch in seinen Abendgesellschaften ein oft und gerne gesehener Gast. Außerdem boten seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse vielfache Berührungspunkte zu einem dauernden Umgange. Als gründlicher Mineraloge ordnete er Goethes Kristalle, sowie seine Kenntnisse der Botanik ihn fähig machten, Goethes ›Metamorphose der Pflanze‹ ins Französische zu übersetzen und dadurch jener wichtigen Schrift eine größere Verbreitung zu geben. Seine Stellung am Hofe ferner führte ihn gleichfalls oft in Goethes Nähe, indem er bald den Prinzen zu ihm begleitete, bald Aufträge Sr. Königlichen Hoheit des Großherzogs und Ihrer Kaiserlichen Hoheit der Frau Großherzogin ihm zu Besuchen bei Goethe Veranlassung gaben.

Von solchen persönlichen Berührungen hat nun Herr Soret in seinen Tagebüchern häufig Notiz genommen und vor einigen Jahren die Güte gehabt, ein daraus zusammengestelltes kleines Manuskript mir in dem Sinne zu übergeben, daß es mir gestattet sein solle, daraus das Beste und Interessanteste in meinem dritten Band chronologisch zu verweben.

Diese in französischer Sprache abgefaßten Notizen waren bald ausführlich, bald aber nur flüchtig und lückenhaft, so wie die eiligen, oft sehr geschäftreichen Tage des Verfassers es ihm hatten erlauben wollen. Da jedoch in dem ganzen Manuskript kein Gegenstand vorgekommen, der nicht zwischen Goethe und mir wiederholt und ausführlich wäre besprochen worden, so waren meine eigenen Tagebücher ganz geeignet, das von Soret Geschriebene zu ergänzen, dort gelassene Lücken auszufüllen und das oft nur Angedeutete in hinlänglicher Entwickelung darzustellen. Alle Gespräche jedoch, bei denen das Manuskript von Soret zugrunde liegt oder stark benutzt worden, wie es besonders in den beiden ersten Jahren der Fall, sind oben am Datum mit einem Sternchen bezeichnet, um sie von denen, die bloß von mir sind, und welche, bis auf weniges, die Jahre 1824 bis 1829 und einen großen Teil von 1830, 31 und 32 ausmachen, zu unterscheiden.

 

Und so wüßte ich nun weiter nichts hinzuzufügen, als daß ich diesem lange und mit Liebe gehegten dritten Band dieselbe gute Aufnahme wünsche, wie sie in so reichlichem Maße den beiden ersten zuteil geworden.

 

Weimar, den 21. Dezember 1847.


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