Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Mittwoch, den 13. Dezember 1826

Über Tisch lobten die Frauen ein Porträt eines jungen Malers. »Und was bewundernswürdig ist,« fügten sie hinzu, »er hat alles von selbst gelernt.« Dieses merkte man denn auch besonders an den Händen, die nicht richtig und kunstmäßig gezeichnet waren.

»Man sieht,« sagte Goethe, »der junge Mann hat Talent; allein daß er alles von selbst gelernt hat, deswegen soll man ihn nicht loben, sondern schelten. Ein Talent wird nicht geboren, um sich selbst überlassen zu bleiben, sondern sich zur Kunst und guten Meistern zu wenden, die denn etwas aus ihm machen. Ich habe dieser Tage einen Brief von Mozart gelesen, wo er einem Baron, der ihm Kompositionen zugesendet hatte, etwa folgendes schreibt: ›Euch Dilettanten muß man schelten, denn es finden bei euch gewöhnlich zwei Dinge statt: entweder ihr habt keine eigene Gedanken, und da nehmet ihr fremde; oder wenn ihr eigene Gedanken habt, so wißt ihr nicht damit umzugehen.‹ Ist das nicht himmlisch? Und gilt dieses große Wort, was Mozart von der Musik sagt, nicht von allen übrigen Künsten?«

Goethe fuhr fort: »Lenardo da Vinci sagt: ›Wenn in euerm Sohn nicht der Sinn steckt, dasjenige, was er zeichnet, durch kräftige Schattierung so herauszuheben, daß man es mit Händen greifen möchte, so hat er kein Talent.‹

Und ferner sagt Lenardo da Vinci: ›Wenn euer Sohn Perspektive und Anatomie völlig innehat, so tut ihn zu einem guten Meister.‹

Und jetzt«, sagte Goethe, »verstehen unsere jungen Künstler beides kaum, wenn sie ihre Meister verlassen. So sehr haben sich die Zeiten geändert.

Unsern jungen Malern«, fuhr Goethe fort, »fehlt es an Gemüt und Geist; ihre Erfindungen sagen nichts und wirken nichts; sie malen Schwerter, die nicht hauen, und Pfeile, die nicht treffen, und es dringt sich mir oft auf, als wäre aller Geist aus der Welt verschwunden.«

»Und doch«, versetzte ich, »sollte man glauben, daß die großen kriegerischen Ereignisse der letzten Jahre den Geist aufgeregt hätten.«

»Mehr Wollen«, sagte Goethe, »haben sie aufgeregt als Geist, und mehr politischen Geist als künstlerischen, und alle Naivetät und Sinnlichkeit ist dagegen gänzlich verloren gegangen. Wie will aber ein Maler ohne diese beiden großen Erfordernisse etwas machen, woran man Freude haben könnte.«

Ich sagte, daß ich dieser Tage in seiner ›Italienischen Reise‹ von einem Bilde Correggios gelesen, welches eine Entwöhnung darstellt, wo das Kind Christus auf dem Schoße der Maria zwischen der Mutterbrust und einer hingereichten Birne in Zweifel kommt und nicht weiß, welches von beiden es wählen soll.

»Ja«, sagte Goethe, »das ist ein Bildchen! Da ist Geist, Naivetät, Sinnlichkeit, alles beieinander. Und der heilige Gegenstand ist allgemein menschlich geworden und gilt als Symbol für eine Lebensstufe, die wir alle durchmachen. Ein solches Bild ist ewig, weil es in die frühesten Zeiten der Menschheit zurück- und in die künftigsten vorwärtsgreift. Wollte man dagegen den Christus malen, wie er die Kindlein zu sich kommen läßt, so wäre das ein Bild, welches gar nichts zu sagen hätte, wenigstens nichts von Bedeutung.

Ich habe nun«, fuhr Goethe fort, »der deutschen Malerei über funfzig Jahre zugesehen, ja nicht bloß zugesehen, sondern auch von meiner Seite einzuwirken gesucht, und kann jetzt so viel sagen, daß, so wie alles jetzt steht, wenig zu erwarten ist. Es muß ein großes Talent kommen, welches sich alles Gute der Zeit sogleich aneignet und dadurch alles übertrifft. Die Mittel sind alle da, und die Wege gezeigt und gebahnt. Haben wir doch jetzt sogar auch die Phidiasse vor Augen, woran in unserer Jugend nicht zu denken war. Es fehlt jetzt, wie gesagt, weiter nichts als ein großes Talent, und dieses, hoffe ich, wird kommen; es liegt vielleicht schon in der Wiege, und Sie können seinen Glanz noch erleben.«


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