Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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So wohnte ich denn bei meinem Freunde und zeichnete nach Rambergischen Originalen. Ich machte Fortschritte, denn die Blätter, die er mir gab, wurden immer bedeutender. Die ganze Anatomie des menschlichen Körpers zeichnete ich durch und ward nicht müde, die schwierigen Hände und Füße immer zu wiederholen. So vergingen einige glückliche Monate. Wir kamen indes in den Mai, und ich fing an zu kränkeln; der Juni rückte heran, und ich war nicht mehr imstande den Griffel zu führen, so zitterten meine Hände.

Wir nahmen unsere Zuflucht zu einem geschickten Arzt. Er fand meinen Zustand gefährlich. Er erklärte, daß infolge des Feldzuges alle Hautausdünstung unterdrückt sei, daß eine verzehrende Glut sich auf die inneren Teile geworfen, und daß, wenn ich mich noch vierzehn Tage so fortgeschleppt hätte, ich unfehlbar ein Kind des Todes gewesen sein würde. Er verordnete sogleich warme Bäder und ähnliche wirksame Mittel, um die Tätigkeit der Haut wieder herzustellen; es zeigten sich auch sehr bald erfreuliche Spuren der Besserung; doch an Fortsetzung meiner künstlerischen Studien war nicht mehr zu denken.

Ich hatte bisher bei meinem Freunde die liebevollste Behandlung und Pflege genossen; daß ich ihm lästig sei oder in der Folge lästig werden könnte, daran war seinerseits kein Gedanke und nicht die leiseste Andeutung. Ich aber dachte daran, und wie diese schon länger gehegte heimliche Sorge wahrscheinlich dazu beigetragen hatte, den Ausbruch der in mir schlummernden Krankheit zu beschleunigen, so trat sie jetzt, da ich wegen meiner Wiederherstellung bedeutende Ausgaben vor mir sah, mit ihrer ganzen Gewalt hervor.

In solcher Zeit äußerer und innerer Bedrängnis eröffnete sich mir die Aussicht zu einer Anstellung bei einer mit der Kriegskanzlei in Verbindung stehenden Kommission, die das Montierungswesen der hannöverischen Armee zum Gegenstand ihrer Geschäfte hatte, und es war daher wohl nicht zu verwundern, daß ich dem Drange der Umstände nachgab und, auf die künstlerische Bahn Verzicht leistend, mich um die Stelle bewarb und sie mit Freuden annahm.

Meine Genesung erfolgte rasch, und es kehrte ein Wohlbefinden und eine Heiterkeit zurück, wie ich sie lange nicht genossen. Ich sah mich in dem Fall, meinem Freunde einigermaßen wieder zu vergüten, was er so großmütig an mir getan. Die Neuheit des Dienstes, in welchen ich mich einzuarbeiten hatte, gab meinem Geiste Beschäftigung. Meine Obern erschienen mir als Männer von der edelsten Denkungsart, und mit meinen Kollegen, von denen einige mit mir in demselbigen Korps den Feldzug gemacht, stand ich sehr bald auf dem Fuß eines innigen Vertrauens.

In dieser gesicherten Lage fing ich nun erst an, in der manches Gute enthaltenden Residenz mit einiger Freiheit umherzublicken, sowie ich auch in Stunden der Muße nicht müde ward, die reizenden Umgebungen immer von neuem zu durchstreifen. Mit einem Schüler Rambergs, einem hoffnungsvollen jungen Künstler, hatte ich eine innige Freundschaft geschlossen; er war auf meinen Wanderungen mein beständiger Begleiter. Und da ich nun auf ein praktisches Fortschreiten in der Kunst wegen meiner Gesundheit und sonstigen Umstände fernerhin Verzicht leisten mußte, so war es mir ein großer Trost, mich mit ihm über unsere gemeinsame Freundin wenigstens täglich zu unterhalten. Ich nahm teil an seinen Kompositionen, die er mir häufig in der Skizze zeigte und die wir miteinander durchsprachen. Ich ward durch ihn auf manche belehrende Schrift geführt, ich las Winckelmann, ich las Mengs; allein da mir die Anschauung der Sachen fehlte, von denen diese Männern handeln, so konnte ich mir auch aus solcher Lektüre nur das Allgemeinste aneignen, und ich hatte davon im Grunde wenig Nutzen.

In der Residenz geboren und aufgewachsen, war mein Freund in geistiger Bildung mir in jeder Hinsicht voran, auch hatte er eine recht hübsche Kenntnis der schönen Literatur, die mir durchaus fehlte. In dieser Zeit war Theodor Körner der gefeierte Held des Tages; er brachte mir dessen Gedichte ›Leier und Schwert‹, die denn nicht verfehlten, auch auf mich einen großen Eindruck zu machen und auch mich zur Bewunderung hinzureißen.

Man hat viel von der künstlerischen Wirkung eines Gedichtes gesprochen und sie sehr hoch gestellt; mir aber will erscheinen, daß die stoffartige die eigentlich mächtige sei, worauf alles ankomme. Ohne es zu wissen, machte ich diese Erfahrung an dem Büchlein ›Leier und Schwert‹. Denn, daß ich gleich Körner den Haß gegen unsere vieljährigen Bedrücker im Busen getragen, daß ich gleich ihm den Befreiungskrieg mitgemacht und gleich ihm alle Zustände von beschwerlichen Märschen, nächtlichen Biwaks, Vorpostendienst und Gefechten erlebt und dabei ähnliche Gedanken und Empfindungen gehegt hatte, das verschaffte diesen Gedichten in meinem Innern einen so tiefen und mächtigen Anklang.

Wie nun aber auf mich nicht leicht etwas Bedeutendes wirken konnte, ohne mich tief anzuregen und produktiv zu machen, so ging es mir auch mit diesen Gedichten von Theodor Körner. Ich erinnerte mich aus meiner Kindheit und den folgenden Jahren, daß ich selber hin und wieder kleine Gedichte geschrieben, aber nicht weiter beachtet hatte, weil ich auf dergleichen leicht entstehende Dinge damals keinen großen Wert legte, und weil überall zur Schätzung des poetischen Talents immer einige geistige Reife erforderlich ist. Nun aber erschien mir diese Gabe in Theodor Körner als etwas durchaus Rühmliches und Beneidenswürdiges, und es erwachte in mir ein mächtiger Trieb, zu versuchen, ob es mir nicht gelingen wolle, es ihm einigermaßen nachzutun.

Die Rückkehr unserer vaterländischen Krieger aus Frankreich gab mir eine erwünschte Gelegenheit. Und wie mir in frischer Erinnerung lebte, welchen unsäglichen Mühseligkeiten der Soldat im Felde sich zu unterziehen hat, während dem gemächlichen Bürger zu Hause oft keine Art von Bequemlichkeit mangelt, so dachte ich, daß es gut sein möchte, dergleichen Verhältnisse in einem Gedicht zur Sprache zu bringen und dadurch, auf die Gemüter wirkend, den zurückkehrenden Truppen einen desto herzlicheren Empfang vorzubereiten.

Ich ließ von dem Gedicht einige hundert Exemplare auf eigene Kosten drucken und in der Stadt verteilen. Die Wirkung, die es tat, war günstig über meine Erwartung. Es verschaffte mir den Zudrang einer Menge sehr erfreulicher Bekanntschaften, man teilte meine ausgesprochenen Empfindungen und Ansichten, man ermunterte mich zu ähnlichen Versuchen und war überhaupt der Meinung, daß ich die Probe eines Talentes an den Tag gelegt habe, welches der Mühe wert sei weiter zu kultivieren. Man teilte das Gedicht in Zeitschriften mit, es ward an verschiedenen Orten nachgedruckt und einzeln verkauft, und überdies erlebte ich daran die Freude, es von einem sehr beliebten Komponisten in Musik gesetzt zu sehen, so wenig es sich auch im Grunde, wegen seiner Länge und ganz rhetorischen Art, zum Gesang eignete.

Es verging von nun an keine Woche, wo ich nicht durch die Entstehung irgendeines weiteren Gedichts wäre beglückt worden. Ich war jetzt in meinem vierundzwanzigsten Jahre, es lebte in mir eine Welt von Gefühlen, Drang und gutem Willen; allein ich war ganz ohne alle geistige Kultur und Kenntnisse. Man empfahl mir das Studium unserer großen Dichter und führte mich besonders auf Schiller und Klopstock. Ich verschaffte mir ihre Werke, ich las, ich bewunderte sie, allein ich fand mich durch sie wenig gefördert; die Bahn dieser Talente lag, ohne daß ich es damals gewußt hätte, von der Richtung meiner eigenen Natur zu weit abwärts.

In dieser Zeit hörte ich zuerst den Namen Goethe und erlangte zuerst einen Band seiner Gedichte. Ich las seine Lieder, und las sie immer von neuem, und genoß dabei ein Glück, das keine Worte schildern. Es war mir, als fange ich erst an aufzuwachen und zum eigentlichen Bewußtsein zu gelangen; es kam mir vor, als werde mir in diesen Liedern mein eigenes mir bisher unbekanntes Innere zurückgespiegelt. Auch stieß ich nirgends auf etwas Fremdartiges und Gelehrtes, wozu mein bloß menschliches Denken und Empfinden nicht ausgereicht hätte, nirgends auf Namen ausländischer und veralteter Gottheiten, wobei ich mir nichts zu denken wußte; vielmehr fand ich das menschliche Herz in allen seinem Verlangen, Glück und Leiden, ich fand eine deutsche Natur wie der gegenwärtige helle Tag, eine reine Wirklichkeit in dem Lichte milder Verklärung.

Ich lebte in diesen Liedern ganze Wochen und Monate. Dann gelang es mir, den ›Wilhelm Meister‹ zu bekommen, dann sein Leben, dann seine dramatischen Werke. Den ›Faust‹, vor dessen Abgründen menschlicher Natur und Verderbnis ich anfänglich zurückschauderte, dessen bedeutend rätselhaftes Wesen mich aber immer wieder anzog, las ich alle Festtage. Bewunderung und Liebe nahm täglich zu, ich lebte und webte Jahr und Tag in diesen Werken und dachte und sprach nichts als von Goethe.

Der Nutzen, den wir aus dem Studium der Werke eines großen Schriftstellers ziehen, kann mannigfaltiger Art sein; ein Hauptgewinn aber möchte darin bestehen, daß wir uns nicht allein unseres eigenen Innern, sondern auch der mannigfaltigen Welt außer uns deutlicher bewußt werden. Eine solche Wirkung hatten auf mich die Werke Goethes. Auch ward ich durch sie zur besseren Beobachtung und Auffassung der sinnlichen Gegenstände und Charaktere getrieben; ich kam nach und nach zu dem Begriff der Einheit oder der innerlichsten Harmonie eines Individuums mit sich selber, und somit ward mir denn das Rätsel der großen Mannigfaltigkeit sowohl natürlicher als künstlerischer Erscheinungen immer mehr aufgeschlossen.

Nachdem ich mich einigermaßen in Goethes Schriften befestiget und mich nebenbei in der Poesie praktisch auf manche Weise versucht hatte, wendete ich mich zu einigen der größten Dichter des Auslandes und früherer Zeiten, und las in den besten Übersetzungen nicht allein die vorzüglichsten Stücke von Shakespeare, sondern auch den Sophokles und Homer.

Hiebei merkte ich jedoch sehr bald, daß von diesen hohen Werken nur das Allgemein-Menschliche in mich eingehen wolle, daß aber das Verständnis des Besonderen, sowohl in sprachlicher als historischer Hinsicht, wissenschaftliche Kenntnisse und überhaupt eine Bildung voraussetzte, wie sie gewöhnlich nur auf Schulen und Universitäten erlangt wird.

Überdies machte man mir von manchen Seiten bemerklich, daß ich mich auf eigenem Wege vergebens abmühe und daß, ohne eine sogenannte klassische Bildung, nie ein Dichter dahin gelangen werde, sowohl seine eigene Sprache mit Geschick und Nachdruck zu gebrauchen, als auch überhaupt, dem Gehalt und Geiste nach, etwas Vorzügliches zu leisten.

Da ich nun auch zu dieser Zeit viele Biographien bedeutender Männer las, um zu sehen, welche Bildungswege sie eingeschlagen, um zu etwas Tüchtigem zu gelangen, und ich bei ihnen überall den Gang durch Schulen und Universitäten wahrzunehmen hatte, so faßte ich, obgleich bei so vorgerücktem Alter und unter so widerstrebenden Umständen, den Entschluß, ein gleiches auszuführen.

Ich wendete mich alsobald an einen als Lehrer beim Gymnasium zu Hannover angestellten vorzüglichen Philologen und nahm bei ihm Privatunterricht, nicht allein in der lateinischen, sondern auch in der griechischen Sprache, und verwendete auf diese Studien alle Muße, die meine wenigstens sechs Stunden täglich in Anspruch nehmenden Berufsgeschäfte mir gewähren wollten.

Dieses trieb ich ein Jahr. Ich machte gute Fortschritte; allein bei meinem unaussprechlichen Drange vorwärts kam es mir vor, als gehe es zu langsam und als müsse ich auf andere Mittel denken. Es wollte mir erscheinen, daß, wenn ich erlangen könne, täglich vier bis fünf Stunden das Gymnasium zu besuchen und auf solche Weise ganz und gar in dem gelehrten Elemente zu leben, ich ganz andere Fortschritte machen und ungleich schneller zum Ziele gelangen würde.

In dieser Meinung ward ich durch den Rat sachkundiger Personen bestätigt; ich faßte daher den Entschluß, so zu tun, und erhielt dazu auch sehr leicht die Genehmigung meiner Obern, indem die Stunden des Gymnasiums größtenteils auf eine solche Tageszeit fielen, wo ich vom Dienste frei war. Ich meldete mich daher zur Aufnahme und ging in Begleitung meines Lehrers an einem Sonntag Vormittag zu dem würdigen Direktor, um die erforderliche Prüfung zu bestehen. Er examinierte mich mit aller möglichen Milde; allein da ich für die hergebrachten Schulfragen kein präparierter Kopf war und es mir trotz allem Fleiß an eigentlicher Routine fehlte, so bestand ich nicht so gut, als ich im Grunde hätte sollen. Doch auf die Versicherung meines Lehrers, daß ich mehr wisse, als es nach dieser Prüfung den Anschein haben möge, und in Erwägung meines ungewöhnlichen Strebens setzte er mich nach Sekunda.

Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich als ein fast Fünfundzwanzigjähriger und als einer, der bereits in königlichen Diensten stand, unter diesen größtenteils noch sehr knabenhaften Jünglingen eine wunderliche Figur machte, so daß diese neue Situation mir anfänglich selber ein wenig unbequem und seltsam vorkommen wollte – doch mein großer Durst nach den Wissenschaften ließ mich alles übersehen und ertragen. Auch hatte ich mich im ganzen nicht zu beschweren. Die Lehrer achteten mich, die älteren und besseren Schüler der Klasse kamen mir auf das freundlichste entgegen, und selbst einige Ausbunde von Übermut hatten Rücksicht genug, an mir ihre frevelhaften Anwandlungen nicht auszulassen.

Ich war daher wegen meiner erreichten Wünsche im ganzen genommen sehr glücklich und schritt auf dieser neuen Bahn mit großem Eifer vorwärts. Des Morgens fünf Uhr war ich wach und bald darauf an meinen Präparationen. Gegen acht ging es in die Schule bis zehn Uhr. Von dort eilte ich auf mein Bureau zu den Dienstgeschäften, die meine Gegenwart bis gegen ein Uhr verlangten. Im Fluge ging es sodann nach Haus; ich verschluckte ein wenig Mittagessen und war gleich nach ein Uhr wieder in der Schule. Die Stunden dauerten bis vier Uhr, worauf ich denn wieder bis nach sieben Uhr in meinem Beruf beschäftiget war und den ferneren Abend zu Präparationen und Privatunterricht verwendete.

Dieses Leben und Treiben verführte ich einige Monate; allein meine Kräfte waren einer solchen Anstrengung nicht gewachsen, und es bestätigte sich die alte Wahrheit: daß niemand zween Herren dienen könne. Der Mangel an freier Luft und Bewegung, sowie die fehlende Zeit und Ruhe zum Essen, Trinken und Schlaf, erzeugten nach und nach einen krankhaften Zustand; ich fühlte mich abgestumpft an Leib und Seele und sah mich zuletzt in der dringenden Notwendigkeit, entweder die Schule aufzugeben oder meine Stelle. Da aber das letztere meiner Existenz wegen nicht anging, so blieb kein anderer Ausweg, als das erstere zu tun, und ich trat mit dem beginnenden Frühling 1817 wieder aus. Es schien zu dem besonderen Geschick meines Lebens zu gehören, mancherlei zu probieren, und so gereute es mich denn keineswegs, auch eine gelehrte Schule eine Zeit lang probiert zu haben.

Ich hatte indes einen guten Schritt vorwärts getan, und da ich die Universität nach wie vor im Auge behielt, so blieb nun weiter nichts übrig, als den Privatunterricht fortzusetzen, welches denn auch mit aller Lust und Liebe geschah.


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