Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Mittwoch, den 8. April 1829

Goethe saß schon am gedeckten Tisch, als ich hereintrat, er empfing mich sehr heiter. »Ich habe einen Brief erhalten,« sagte er, »woher? – Von Rom! Aber von wem? – Vom König von Bayern!«

»Ich teile Ihre Freude«, sagte ich. »Aber ist es nicht eigen, ich habe mich seit einer Stunde auf einem Spaziergange sehr lebhaft mit dem Könige von Bayern in Gedanken beschäftigt, und nun erfahre ich diese angenehme Nachricht.«

»Es kündigt sich oft etwas in unserm Innern an«, sagte Goethe. »Dort liegt der Brief, nehmen Sie, setzen Sie sich zu mir her und lesen Sie!«

Ich nahm den Brief, Goethe nahm die Zeitung, und so las ich denn ganz ungestört die königlichen Worte. Der Brief war datiert: Rom, den 26. März 1829, und mit einer stattlichen Hand sehr deutlich geschrieben. Der König meldete Goethen, daß er sich in Rom ein Besitztum gekauft, und zwar die Villa di Malta mit anliegenden Gärten, in der Nähe der Villa Ludovisi, am nordwestlichen Ende der Stadt, auf einem Hügel gelegen, so daß er das ganze Rom überschauen könne und gegen Nordost einen freien Anblick von Sankt Peter habe. »Es ist eine Aussicht,« schreibt er, »welche zu genießen man weit reisen würde, und die ich nun bequem zu jeder Stunde des Tages aus den Fenstern meines Eigentums habe.« Er fährt fort, sich glücklich zu preisen, nun in Rom auf eine so schöne Weise ansässig zu sein. »Ich hatte Rom in zwölf Jahren nicht gesehen,« schreibt er, »ich sehnte mich danach, wie man sich nach einer Geliebten sehnt; von nun an aber werde ich mit der beruhigten Empfindung zurückkehren, wie man zu einer geliebten Freundin geht.« Von den erhabenen Kunstschätzen und Gebäuden spricht er sodann mit der Begeisterung eines Kenners, dem das wahrhaft Schöne und dessen Förderung am Herzen liegt, und der jede Abweichung vom guten Geschmack lebhaft empfindet. Überall war der Brief durchweg so schön und menschlich empfunden und ausgedrückt, wie man es von so hohen Personen nicht erwartet. Ich äußerte meine Freude darüber gegen Goethe.

»Da sehen Sie einen Monarchen,« sagte er, »der neben der königlichen Majestät seine angeborene schöne Menschennatur gerettet hat. Es ist eine seltene Erscheinung und deshalb um so erfreulicher.« Ich sah wieder in den Brief und fand noch einige treffliche Stellen. »Hier in Rom«, schreibt der König, »erhole ich mich von den Sorgen des Thrones; die Kunst, die Natur sind meine täglichen Genüsse, Künstler meine Tischgenossen.« Er schreibt auch, wie er oft an dem Hause vorbeigehe, wo Goethe gewohnt, und wie er dabei seiner gedenke. Aus den ›Römischen Elegien‹ sind einige Stellen angeführt, woraus man sieht, daß der König sie gut im Gedächtnis hat und sie in Rom, an Ort und Stelle, von Zeit zu Zeit wieder lesen mag.

»Ja,« sagte Goethe, »die ›Elegien‹ liebt er besonders; er hat mich hier viel damit geplagt, ich sollte ihm sagen, was an dem Faktum sei, weil es in den Gedichten so anmutig erscheint, als wäre wirklich was Rechtes daran gewesen. Man bedenkt aber selten, daß der Poet meistens aus geringen Anlässen was Gutes zu machen weiß.

Ich wollte nur,« fuhr Goethe fort, »daß des Königs ›Gedichte‹ jetzt da wären, damit ich in meiner Antwort etwas darüber sagen könnte. Nach dem wenigen zu schließen, was ich von ihm gelesen, werden die Gedichte gut sein. In der Form und Behandlung hat er viel von Schiller, und wenn er nun, in so prächtigem Gefäß, uns den Gehalt eines hohen Gemütes zu geben hat, so läßt sich mit Recht viel Treffliches erwarten.

Indessen freue ich mich, daß der König sich in Rom so hübsch angekauft hat. Ich kenne die Villa, die Lage ist sehr schön, und die deutschen Künstler wohnen alle in der Nähe.«

Der Bediente wechselte die Teller, und Goethe sagte ihm, daß er den großen Kupferstich von Rom im Deckenzimmer am Boden ausbreiten möge. »Ich will Ihnen doch zeigen, an welch einem schönen Platz der König sich angekauft hat, damit Sie sich die Lokalität gehörig denken mögen.« Ich fühlte mich Goethen sehr verbunden.

»Gestern abend«, versetzte ich, »habe ich die ›Claudine von Villa Bella‹ gelesen und mich sehr daran erbauet. Es ist so gründlich in der Anlage und so verwegen, locker, frech und froh in der Erscheinung, daß ich den lebhaften Wunsch fühle, es auf dem Theater zu sehen.«

»Wenn es gut gespielt wird,« sagte Goethe, »macht es sich gar nicht schlecht.«

»Ich habe schon in Gedanken das Stück besetzt«, sagte ich, »und die Rollen verteilt. Herr Genast müßte den Rugantino machen, er ist für die Rolle wie geschaffen; Herr Franke den Don Pedro, denn er ist von einem ähnlichen Wuchs, und es ist gut, wenn zwei Brüder sich ein wenig gleich sind; Herr La Roche den Basko, der dieser Rolle durch treffliche Maske und Kunst den wilden Anstrich geben würde, dessen sie bedarf.«

»Madame Eberwein«, fuhr Goethe fort, »dächte ich, wäre eine sehr gute Lucinde, und Demoiselle Schmidt machte die Claudine.«

»Zum Alonzo«, sagte ich, »müßten wir eine stattliche Figur haben, mehr einen guten Schauspieler als Sänger, und ich dächte, Herr Oels oder Herr Graff würden da am Platze sein. Von wem ist denn die Oper komponiert, und wie ist die Musik?«

»Von Reichardt,« antwortete Goethe, »und zwar ist die Musik vortrefflich. Nur ist die Instrumentierung, dem Geschmack der früheren Zeit gemäß, ein wenig schwach. Man müßte jetzt in dieser Hinsicht etwas nachhelfen und die Instrumentierung ein wenig stärker und voller machen. Unser Lied: ›Cupido, loser, eigensinniger Knabe‹ ist dem Komponisten ganz besonders gelungen.«

»Es ist eigen an diesem Liede,« sagte ich, »daß es in eine Art behagliche träumerische Stimmung versetzt, wenn man es sich rezitiert.«

»Es ist aus einer solchen Stimmung hervorgegangen,« sagte Goethe, »und da ist denn auch mit Recht die Wirkung eine solche.«

Wir hatten abgespeist. Friedrich kam und meldete, daß er den Kupferstich von Rom im Deckenzimmer ausgebreitet habe. Wir gingen ihn zu betrachten.

Das Bild der großen Weltstadt lag vor uns; Goethe fand sehr bald die Villa Ludovisi und in der Nähe den neuen Besitz des Königs, die Villa di Malta. »Sehen Sie,« sagte Goethe, »was das für eine Lage ist! Das ganze Rom streckt sich ausgebreitet vor Ihnen hin, der Hügel ist so hoch, daß Sie gegen Mittag und Morgen über die Stadt hinaussehen. Ich bin in dieser Villa gewesen und habe oft den Anblick aus diesen Fenstern genossen. Hier, wo die Stadt jenseit der Tiber gegen Nordost spitz ausläuft, liegt Sankt Peter, und hier der Vatikan in der Nähe. Sie sehen, der König hat aus den Fenstern seiner Villa den Fluß herüber eine freie Ansicht dieser Gebäude. Der lange Weg hier, von Norden herein zur Stadt, kommt aus Deutschland das ist die Porta del Popolo; in einer dieser ersten Straßen zum Tor herein wohnte ich, in einem Eckhause. Man zeigt jetzt ein anderes Gebäude in Rom, wo ich gewohnt haben soll, es ist aber nicht das rechte. Aber es tut nichts; solche Dinge sind im Grunde gleichgültig, und man muß der Tradition ihren Lauf lassen.«

Wir gingen wieder in unser Zimmer zurück. – »Der Kanzler«, sagte ich, »wird sich über den Brief des Königs freuen.«

»Er soll ihn sehen«, sagte Goethe. »Wenn ich in den Nachrichten von Paris die Reden und Debatten in den Kammern lese,« fuhr Goethe fort, »muß ich immer an den Kanzler denken, und zwar, daß er dort recht in seinem Element und an seinem Platz sein würde. Denn es gehört zu einer solchen Stelle nicht allein, daß man gescheit sei, sondern daß man auch den Trieb und die Lust zu reden habe, welches sich doch beides in unserm Kanzler vereinigt. Napoleon hatte auch diesen Trieb zu reden, und wenn er nicht reden konnte, mußte er schreiben oder diktieren. Auch bei Blücher finden wir, daß er gerne redete, und zwar gut und mit Nachdruck, welches Talent er in der Loge ausgebildet hatte. Auch unser Großherzog redete gerne, obgleich er lakonischer Natur war, und wenn er nicht reden konnte, so schrieb er. Er hat manche Abhandlung, manches Gesetz abgefaßt, und zwar meistenteils gut. Nur hat ein Fürst nicht die Zeit und die Ruhe, sich in allen Dingen die nötige Kenntnis des Details zu verschaffen. So hatte er in seiner letzten Zeit noch eine Ordnung gemacht, wie man restaurierte Gemälde bezahlen solle. Der Fall war sehr artig. Denn wie die Fürsten sind, so hatte er die Beurteilung der Restaurationskosten mathematisch auf Maß und Zahlen festgesetzt. Die Restauration, hatte er verordnet, soll fußweise bezahlt werden. Hält ein restauriertes Gemälde zwölf Quadratfuß, so sind zwölf Taler zu zahlen; hält es vier, so zahlet vier. Dies war fürstlich verordnet, aber nicht künstlerisch. Denn ein Gemälde von zwölf Quadratfuß kann in einem Zustande sein, daß es mit geringer Mühe an einem Tage zu restaurieren wäre; ein anderes aber von vier kann sich derart befinden, daß zu dessen Restauration kaum der Fleiß und die Mühe einer ganzen Woche hinreichen. Aber die Fürsten lieben als gute Militärs mathematische Bestimmungen und gehen gerne nach Maß und Zahl großartig zu Werke.«

Ich freute mich dieser Anekdote. Sodann sprachen wir noch manches über Kunst und derartige Gegenstände.

»Ich besitze Handzeichnungen«, sagte Goethe, »nach Gemälden von Raffael und Dominichin, worüber Meyer eine merkwürdige Äußerung gemacht hat, die ich Ihnen doch mitteilen will.

›Die Zeichnungen‹, sagte Meyer, ›haben etwas Ungeübtes, aber man sieht, daß derjenige, der sie machte, ein zartes richtiges Gefühl von den Bildern hatte, die vor ihm waren, welches denn in die Zeichnungen übergegangen ist, so daß sie uns das Original sehr treu vor die Seele rufen. Würde ein jetziger Künstler jene Bilder kopieren, so würde er alles weit besser und vielleicht auch richtiger zeichnen; aber es ist vorauszusagen, daß ihm jene treue Empfindung des Originals fehlen, und daß also seine bessere Zeichnung weit entfernt sein würde, uns von Raffael und Dominichin einen so reinen vollkommenen Begriff zu geben.‹

Ist das nicht ein sehr artiger Fall?« sagte Goethe. »Es könnte ein Ähnliches bei Übersetzungen stattfinden. Voß hat z. B. sicher eine treffliche Übersetzung vom Homer gemacht: aber es wäre zu denken, daß jemand eine naivere, wahrere Empfindung des Originals hätte besitzen und auch wiedergeben können, ohne im ganzen ein so meisterhafter Übersetzer wie Voß zu sein.«

Ich fand dieses alles sehr gut und wahr und stimmte vollkommen bei. Da das Wetter schön und die Sonne noch hoch am Himmel war, so gingen wir ein wenig in den Garten hinab, wo Goethe zunächst einige Baumzweige in die Höhe binden ließ, die zu tief in die Wege herabhingen.

Die gelben Krokus blühten sehr kräftig. Wir blickten auf die Blumen und dann auf den Weg, wo wir denn vollkommen violette Bilder hatten. »Sie meinten neulich,« sagte Goethe, »daß das Grüne und Rote sich gegenseitig besser hervorrufe als das Gelbe und Blaue, indem jene Farben auf einer höheren Stufe ständen und deshalb vollkommener, gesättigter und wirksamer wären als diese. Ich kann das nicht zugeben. Jede Farbe, sobald sie sich dem Auge entschieden darstellt, wirkt zur Hervorrufung der geforderten gleich kräftig; es kommt bloß darauf an, daß unser Auge in der rechten Stimmung, daß ein zu helles Sonnenlicht nicht hindere, und daß der Boden zur Aufnahme des geforderten Bildes nicht ungünstig sei. Überhaupt muß man sich hüten, bei den Farben zu zarte Unterscheidungen und Bestimmungen zu machen, indem man gar zu leicht der Gefahr ausgesetzt wird, vom Wesentlichen ins Unwesentliche, vom Wahren in die Irre und vom Einfachen in die Verwickelung geführt zu werden.«

Ich merkte mir dieses als eine gute Lehre in meinen Studien. Indessen war die Zeit des Theaters herangerückt, und ich schickte mich an zu gehen. »Sehen Sie zu,« sagte Goethe lachend, indem er mich entließ, »daß Sie die Schrecknisse der ›Dreißig Jahre aus dem Leben eines Spielers‹ heute gut überstehen.«


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