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Das bißchen Europa

Java ist altes Aufruhrland. Die Mynheers von Amsterdam und Delft, im spanischen Jahrhundert die ersten glücklichen Vorkämpfer von Bürgerfreiheit, haben auf ihrem überseeischen Besitz nicht weniger grausam gewütet als bei ihnen zu Hause einst die Generale und Pfaffen des Escorial. In Java war es, wo der hoffnungsvolle Kolonialbeamte Eduard Douwes Dekker sein Entsetzen über die zivilisatorischen Methoden seiner Landsleute zuerst in die Welt hinausschrie, um als Multatuli hinfort ein leidenschaftlicher Ankläger gegen den »Raubstaat zwischen Schelde und Nordsee« zu werden, in dem wir stammverwandten Nachbarn einen in breites niederdeutsches Phlegma getunkten Kleinstaat zu sehen gewohnt sind. Diese Schreckenszeiten sind wohl längst vorüber, und nur bei gelegentlichen Strafexpeditionen ins Innere mag die alte Tradition noch hochgehalten werden. Die moderne Zeit hat auch in Insulinde Einzug gehalten; in den Städten hat sich eine malayische Bourgeoisie gebildet, deren Söhne auf den Universitäten der Weißen mit Nutzen alle Theorien über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen studiert haben. Demgegenüber versucht die niederländische Regierung seit Jahren eine kalmierende Taktik, indem sie den Eingeborenen in einem »Volksrat« ein unschädliches Recht zum Mitreden eingeräumt hat. Das mochte nach Jahrhunderten schweigenden Duldenmüssens ein Fortschritt gewesen sein; heute, wo China und Indien mitten in einen unerhörten Emanzipationsprozeß geschleudert sind, wirkt das eher revoltierend als mäßigend. Bulletins aus dem Haag melden voreilig die Erstickung einzelner lokaler Unruhen; von andrer Seite jedoch wird behauptet, eine Erhebung des gesamten Inselreiches liege durchaus im Bereich des Möglichen. Wie soll das kleine Holland fünfzig Millionen Malayen zur Botmäßigkeit zwingen? England betrachtet interessiert die Entwicklung; Amerika und Japan könnten im Fall einer englischen Intervention zu Gunsten der holländischen Herrschaft auch eine Rolle spielen. Vielleicht kommt die Börse von Amsterdam noch einmal mit dem Schrecken davon. Aber es gibt von jetzt an in der tropischen Welt ein politisches Erdbebengebiet mehr, und Europa hat um eine Position mehr zu kämpfen.

 

Die ersten amtlichen Meldungen aus dem holländischen Kolonialministerium sprachen von einem kommunistischen Aufruhr. Was auf das ängstliche Bürgertum einen vorzüglichen Eindruck gemacht hat, aber nicht mehr Tatsachenwert beanspruchen kann als eine uns so wohl bekannte Deklaration über Ausschreitungen »national-kommunistischer Haufen«. Die armen Malayen haben nämlich nicht den Kommunismus einführen, sondern nur behaupten wollen. Von altersher gibt es auf dem indischen Archipel eine Art Gütergemeinschaft, nicht viel anders als in den paradiesischen Zeiten, wo Adam grub und Eva spann. Die Holländer, im Vollbewußtsein ihrer kulturellen Mission, wollten etwas für die kommerzielle Aufklärung der braunen Naturkinder tun. Die aber haben sich immer gegen die Aufzwingung fremder Eigentumsbegriffe gesträubt, und die Wurzel fast aller ernsthaften Rebellionen ist in dieser soziologischen Meinungsverschiedenheit zu suchen. Möglich, daß diesmal Agenten aus dem nicht fernen Canton etwas nachgeholfen haben – das wird besser, wenn dort Külz einmal als Völkerbunds-Kommissar einzieht –, auch die konspirativen Talente der Moskauer sind allzu bekannt, um ihre Mitwirkung ganz außer Zweifel zu lassen; aber die Annahme, daß der Kreml Revolutionen gratis und franko ins Haus liefert, ist ein bürgerlicher Aberglaube, nicht weniger Verblasen als die Phantasien von den Weisen von Zion oder die Angst katholischer Winkelblätter vor der mystischen Weltmacht der Brüder Freimaurer. Mag Rußland auch nationalen Aufständen Etiketts und Parolen liefern; die Konflikte selbst kann es nicht fabrizieren, die sind da, und seine Sache ist nur, sie deutlich zu machen. Die europäischen Ausbeuter »farbiger« Völker müssen sich eben mit dem Gedanken vertraut machen: wo Unterdrückung ist, gibt es auch »Bolschewismus«; die Zeiten ungestörter Ausbeutung sind vorüber und kommen nicht mehr wieder. Rußland, in Europa wirtschaftlich und politisch in der Defensive, abgeschnitten von den Meeren, hat einen letzten unerhörten Trumpf ausgespielt: es hat das Patronat über alle Erhebungen wider den Imperialismus übernommen; es bohrt überall nach, wo der Rost schon im Eisen verjährter Herrschaftsansprüche frißt. So hat sich Moskau einen uneinnehmbaren Gürtel von Fortifikationen geschaffen und eine vielnamige Waffe, die heute China heißt, morgen vielleicht wieder Persien oder Afghanistan. Und wenn der inzwischen längst sagenhaft gewordene »deutsche Gedanke in der Welt« seinerzeit wahrscheinlich nicht einmal von seinem Autor verstanden worden ist: der russische Gedanke in Asien wird verstanden und birgt die Sowjet-Union in einem Stachelpanzer, stark genug, die Jahre zu überdauern, die nötig sind, um nach einem mißlungenen Vorstoß in die Utopie seine endgültige soziale Form zu finden.

 

Große Ereignisse haben immer winzige Anlässe. Aus einem unverbindlichen Rat des deutschen Außenministers an die Türkei, doch dem Völkerbund endlich beizutreten, mußte sich die Entrevue von Odessa entwickeln, die in London Bestürzung und in keinem andern europäischen Kabinett Freude erweckt hat. Kismet. (Trotzdem hätte Herr Doktor Stresemann besser getan, seinen wohlgemeinten Rat der von ihm subventionierten Deutschen Allgemeinen Zeitung zu geben.) Was haben Tschitscherin und Ruschdi Bei in Odessa verhandelt? Wahrscheinlich sind die Ergebnisse magerer als die Gerüchte, die von dem Projekt eines russisch-asiatischen Völkerbunds zu berichten wissen. Es spricht jedoch für die Wirkung der russischen Politik, daß eine pure Demonstration, eine Unterhaltung zwischen Tschitscherin und dem türkischen Kollegen, imstande ist, die ganze Welt in Aufregung zu versetzen. Ob Rußland im Ernst eine Liga asiatischer Nationen – einen Anti-Völkerbund, sozusagen – plant, muß dahingestellt bleiben. Zunächst erscheint es wenig hoffnungsvoll, Völker so verschiedener Art unter das Dach einer verpflichtenden Satzung zu bringen. Denn verpflichtend muß diese Satzung sein: ein Genf des Fernen Ostens, wo Jeder tun und lassen kann, was er will, wäre für Rußland nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich. Ferner darf nicht übersehen werden, daß es gar nicht in Moskaus Interesse und Absicht liegt, sich ostentativ von Europa zu entfernen. Viel näher liegt der Gedanke, daß in Odessa die ersten Erörterungen eines zukünftigen Paktsystems stattgefunden haben, das von Moskau über Angora–Teheran–Kabul nach Peking führen und insbesondere die Türkei so eng an Rußland binden soll, daß dieses endlich den ersehnten freien Durchgang zum Meere erhält. Die Angora-Türkei ist ein weder politisch noch wirtschaftlich lebensfähiges Gebilde; sie würde bei der Anlehnung an einen Stärkern vielleicht zur puren Satrapie herabsinken, aber auch vor der Gefahr bewahrt bleiben, auf gewaltsamem Wege ihr Ende zu finden. Das Bündnis mit Rußland würde ihr wenigstens das Existenzminimum gewähren, dem großen Partner aber den seit Jahrhunderten ersehnten Zugang zum Mittelmeer verschaffen. Daß sich dies Alles hinter verschlossenen Türen abspielt, daß eines Tages die Welt wieder vor einem fait accompli stehen wird, ist gewiß sehr unerfreulich, doch begreiflich, solange Europa selbst an den Methoden der Geheimdiplomatie festhält, der Völkerbund durch das System der Garantiepakte in eine Schattenrolle gedrängt wird und die Abrüstungsfragen der Heiligen Allianz der Generale zur ausschließlichen Behandlung überlassen bleiben. Was bedeutet schließlich das bißchen Europa neben der Welt, die es sich zu beherrschen angemaßt hat? Was bedeuten die Querelen am Rhein neben dem Erwachen am Jangtse? Was die Deklamationen Mussolinis über die Notwendigkeit der kolonialen Expansion Italiens neben dem Faktum, daß die Canton-Truppen Shanghai näher rücken? England, das stets Elastische, hat zuerst den Mut zur Konsequenz gefunden und das Band, an dem seine Dominions zerrten, freiwillig gelockert. Weisheit oder Not? Europas wirtschaftliche Omnipotenz ist von Amerika zerschlagen worden. Onkel Shylocks Schuldner spielen heute noch vor Braunen, Gelben und Schwarzen die Herren. Die Völker Europas wahren ihre heiligsten Güter noch in alter Positur – aber der Stock, den sie schwingen, ist der Bettelstab.

 

Die Gloriole von Thoiry verdunstet. Stimmung in Paris und Berlin, trotz offiziöser Aufpulverungsversuche, gleich deprimiert. In der Frage der Militärkontrolle soll angeblich eine Annäherung erreicht sein. Aber Alles ist noch vage, und wenn sich in den Berliner Regierungsblättern die Hoffnung wieder kräftiger regt, so nur, weil Herr Stresemann in den nächsten Tagen endlich die lang entbehrte Rede halten wird. Im Auswärtigen Ausschuß hat der gemäßigte Deutschnationale Otto Hoetzsch kürzlich behauptet, daß von dem Thoiry-Programm eigentlich gar nichts mehr übrig sei – eine Meinung, der zum Teil auch auf den Bänken der Regierungsgruppen lebhaft beigepflichtet wurde. Vielleicht wärs schon hier zum Krach gekommen, wenn nicht ein bekannter linksrepublikanischer Zentrumsmann plötzlich den Ausschuß mit dem Einfall überrascht hätte, daß nur ein deutsch–italienisch–russisches Bündnis Europa retten könne. Wir haben jetzt so viele Allianzen und Pakte: warum kann mans nicht mal so versuchen? Europa als Kreuzworträtsel. Schweigend hörte der Ausschuß die Meinung des beliebten Republikaners an und vertagte sich in tiefem Nachdenken.

 

Seit Monaten wird von den reaktionären tschechischen Parteien ein erbitterter Kampf gegen die Politik der »Burg« geführt, das heißt: gegen den demokratischen Kurs des greisen Masaryk, der heute am stärksten von dem Außenminister Benesch gestützt wird. Führer der Campagne ist der alte chauvinistische Raufbold Kramarsch, der nach der Präsidentenwürde trachtet und in Benesch den chancenreichsten Nebenbuhler haßt. Gearbeitet wird mit allen Mitteln der Verleumdung; Korruptionsskandale werden inszeniert – kurz: es könnte Alles auch von Bacmeister sein. Wenn Masaryk unerreichbar für die Anwürfe ist: Benesch ist es nicht; und wenn nicht Alles trügt, wird der geschäftige Mann sich bald für einige Zeit mit einer notgedrungenen Muße abfinden müssen. Das ist bedauerlich, denn Doktor Eduard Benesch gehört zu den Staatsmännern, die aus dem Bilde des neuen Europa kaum fortzudenken sind. Ursprünglich ganz in der Versailler Orthodoxie befangen und unter den geistigen Nachwirkungen seiner Emigranten- und Konspiratoren-Zeit im Kriege stehend, hat er sich immer mehr und mehr freigemacht und zu einem Politiker von europäischem Blick entwickelt. Wie er früher der gern gesehene Vermittler zwischen London und Paris war, so hat er von Locarno bis Genf unermüdlich an der Verständigung Deutschlands mit den Westmächten gearbeitet. Herr Doktor Benesch hat bei uns eine sehr schlechte Presse, und besonders die Demokraten hassen ihn: teils, weil er wirklich ein sehr guter Demokrat ist, teils, weil er an den deutschen Abrüstungswillen lange Zeit nicht recht glauben wollte und dem auch öffentlich Ausdruck gegeben hat. Heute, wo die Schwarze Reichswehr mit klingendem Spiel selbst in die Schlagzeilen des kleinsten Demokratenblatts einmarschiert ist, liegt eigentlich kein Grund zum Groll mehr vor. Oder ist so unbekannt, daß Walther Rathenau noch kurz vor seinem gewaltsamen Ende sich mit dem Gedanken trug, eine direkte Aussprache mit der Entente herbeizuführen und sich dabei der Vermittlung von Benesch zu bedienen? Rathenau, der Übervorsichtige, dürfte sich für diese delikate Vermittlerrolle kaum Jemand ausgesucht haben, dem er nicht voll vertraut hätte. Das übersehen die deutschen Benesch-Fresser gewöhnlich. Ebenso, daß er, der angebliche Hetzer, grade von den extremen nationalistischen Gruppen am giftigsten befehdet wird.

Die Weltbühne, 23. November 1926


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