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Zwischenspiele

Pronunciamento? In die normale Umständlichkeit einer Kabinettskrise platzt die Nachricht, daß einige lang beobachtete Verschwörer verschwunden sind. Severings Polizei überwindet die erste Verwirrung und wird mit nützlicher Hemmungslosigkeit mobil – durchsucht die Wohnungen Verdächtiger und fördert aus Schreibtischen Plan, Zusammensetzung und erste Proklamation eines Diktatur-Kollegiums zu Tage. Alle von 1920 und 1923 bekannten Requisiten darin; auch das Galgenseil als einigendes Band neuer Volksgemeinschaft fehlt nicht. Alles ist undiskutabel töricht. Spuk eines Spuks, den vor fast drei Jahren bayrische Gewehrkugeln auf dem Odeonsplatz verscheucht haben. Wann jemals wäre die Atmosphäre zum Rechtsputsch ungünstiger gewesen als jetzt! Links ist der Zug der Stunde. Volksmassen durch Arbeitslosigkeit und Not radikalisiert; das Kleinbürgertum flucht den Aufwertungsbetrügern; Schwarz-Rot-Gold und Rot beherrschen die Straße. Und da sollte irgendein Onkel Neumann aus Lübeck grade dort aufstehen, wo Ludendorff kippte? Die bürgerliche Linke päppelt den Hokuspokus, um zu verdecken, wie schmählich sie in der Fahnenfrage zurückgewichen ist. Es war verdienstvoll von der Polizei, schnell entschlossen ein paar Geheimfächer auszunehmen. Aber es ist Selbstbetrug der Politiker, das Problem in Herrn Düsterbergs Schreibtisch zu suchen. Es liegt bei der Reichswehr. In allen Plänen und Memoranden chrakterisieren die Verbände sich selbst als Astralleib der Wehrmacht. Den Oberst v. Luck vom Olympia-Club, bei dem die Aufmarsch-Skizze gefunden wurde, ließ der Berliner Polizeirichter laufen mit der Begründung, der Herr Oberst habe geglaubt, »im Interesse der Reichswehr« zu handeln! Wie käme der Herr Polizeirichter zu solcher Annahme ohne zureichenden Beweis? Hier, vor diesem schwarzen Zwischenreich beginnt erst die wirkliche Aufgabe der Republikaner und ihrer Blätter. Ohne die Reichswehr sind die Verbände eine Zusammenrottung von Hanswursten, mit der Reichswehr ... Herren im Land. Triumphgesänge anzustimmen, ohne den Mut zur entscheidenden Frage das bedeutet: neue Illusion, Umschleichung der Gefahrenzone, Selbsttäuschung und Bluff.

 

In Chestertons genialem Ulk: ›Der Mann, der Donnerstag war‹ leitet die komödienhafte Verwirrung eines Duells zwischen Polizei und Anarchisten ein unsichtbarer Gewaltiger, der jeden Mitspieler zu einer Doppelrolle zwingt. Das ist »der Mann vom zappendustern Raum«. Die gesamte deutsche Verschwörerei seit 1919 weist auf einen solchen unermüdlichen Demiurgen hin, der alle Drähte führt, Fäden knüpft und Lebensfäden abschneidet. Oft genug ist der Verdacht auf Herrn Justizrat Claß gefallen, seit 25 Jahren Einpeitscher des Alldeutschen Verbandes und jeder außenpolitischen Katastrophe. Einmal, im Seeckt-Prozeß, stand er, von ein paar unangenehmen Fragen belästigt, bleich und schlotternd im Gerichtssaal, wie Jemand, dem das nüchterne Tageslicht nicht recht bekommt. Ein gütiger Richter begnügte sich damit, Herrn Claß etwas geängstigt zu haben. Jetzt hat man bei ihm die Hänge-Proklamation gefunden. Da die Weiteruntersuchung bei Herrn Ebermayer liegt, werden vielleicht unsre Enkel das Geheimnis des zappendustern Raums erfahren.

 

Kanzler Luther fällt als Konzession der Demokratenführer an ihre empörte Anhängerschaft. Dieselbe Presse, die ihn zwischen Locarno und Genf als Rathenaus Erben gefeiert hat, nennt ihn heute einen tristen Bureaukraten, ohne Horizont und Tastgefühl, einen Cuno oder Michaelis. Er verstand sich nicht auf die Gefühlswerte des neuen Staates, stirnrunzeln Breitscheid und Koch. Antwortet, Ihr stahlharten Verrinas: wer außer Joseph Wirth in einigen glücklichen Momenten hat von solchem Instinkt für republikanische Werte was ahnen lassen? Etwa Ebert, der immer für die union sacrée strebte und nach Sachsen marschieren ließ? Oder Marx? Oder – Herr Koch! – Ihr Freund Geßler? Fatal wurde dem armen Luther nur, daß er weder Parlamentarier noch Führer einer parlamentarischen Gruppe ist. Herr Stresemann, durch die Berichte seiner Gesandtschaften und Konsulate der eigentliche Beweger der Fahnen-Kalamität, bleibt weiter koalitionsfähig. Luthers Kopf wird als Trophäe dem grollenden Reichsbanner hingeworfen. Dabei haben unter erschrecklicher Kanonade gegen den Kanzler Zentrum und Demokraten in der Sache selbst einen glanzlosen Rückzug angetreten: sie haben in der Flaggenfrage dem Vorschlag des Reichspräsidenten zugestimmt, den »Ausgleich« zu finden, der allen Strömungen gerecht wird. Was, aus dem Fraktionellen in unser geliebtes Deutsch übertragen, so viel heißt wie: sie haben Schwarz-Rot-Gold schon jetzt preisgegeben. Diesen Handel zu bemänteln, dient die lärmende Herabsetzung Luthers. Dessen Irrtum aber war nur der Irrtum Aller von Kardorff bis Hermann Müller: – er glaubte an eine Politik der Mitte. Was ihn von den Andern unterschied, war einzig, daß er das Problem von Rechts anpackte, anstatt von Links. Kühl und besonnen, ein entpathetisierter Stresemann gleichsam, ohne Flausen und Silberstreifen, wollte er die Deutschnationalen an eine mittlere Linie binden. War das wirklich nebelhafter als die Werberufe für die große Koalition? Solange um die Staatsform gestritten wird – und solange die Staatsform so bekämpft wird wie in Deutschland –, gibt es nur Pro oder Contra, Rechts oder Links, und Intransigenz steht gegen Intransigenz. Bis dahin, bis die sogenannten Mittelparteien endlich wissen, zu welchem Flügel sie gehören, wird alle Regiererei Zwischenspiel sein und erst dann das Stadium der Endkämpfe beginnen. Wenn in absehbarer Zeit aber Herr Erich Koch, von Zentrum und Sozialdemokraten auf den Schild gehoben, Kanzler wird, dann wünschen wir ihm für die schwarz-rot-goldene Republik so viel Klugheit, Arbeitskraft und Zähigkeit, wie Hans Luther für die schwarz-weiß-rote aufgebracht hat. Bei tief verwurzeltem nationalistischen Fühlen war er in Reden und Auftreten ein disziplinierter und taktvoller Unterhändler. Als sich Herr Koch im vorigen Herbst auf den Pariser Pazifistenkongreß verirrt hatte, drohte er, bei der ersten Unstimmigkeit mit den Franzosen, den Koffer zu packen. Qui vivra, verra.

 

Es gibt übrigens noch einen innenpolitischen Neben-Kriegsschauplatz, auf dem nicht weniger grimmig gestritten wird. In jedem Wirtshaus begrüßt dich ein Plakat: eine Frauensperson, einer apokalyptischen Chimäre gleich, mit riesiger Sense unser geliebtes Deutschland niedermähend. Du glaubst, es sei der Bolschewismus – nein: es ist die Prohibition. Warum eigentlich eine so delirante Agitation? Niemand denkt im Ernst an Trockenlegung. Schließlich ist noch Bayern da. Obgleich sich jüngst sogar Adolf Hitler dafür erklärt hat, der damit buchstäblich das Faß unter seinen Füßen zertrümmert. Selbst wenn man sich alle Argumente gegen das amerikanische System immer wieder auftischt: wie nützlich wäre für den deutschen Geist eine mehrjährige Entfuselung! Sind die Wasserapostel in ihrer Unduldsamkeit auch oft unleidlich: gräßlich, die Sachwalter des Brau- und Spritkapitals wie kürzlich im Reichstag, auf das Selbstbestimmungsrecht des Individuums pochen zu hören. Warum grade hier, wo es sich um Dividende handelt? In unzähligen Gesetzen des modernen Staates scheint mittelalterliche Moral sich für ewige Zeiten verkrustet zu haben, und die Braven, die für das gute deutsche Zechen den Bierbauch blähen, hätten gar nichts dagegen, daß der Staat die jungen Leute wieder in die Uniform steckte, zum fröhlichen Heldentod. Es besteht nun einmal ein tiefer Zusammenhang zwischen Patriotismus und Alkohol; wie nach einer alten Doktrin der besoffenste Soldat der tüchtigste ist.

 

Neben dem kümmerlichen deutschen Putsch-Dilettantismus besteht der polnische Staatsstreich wie ein Stück Anschauungsunterricht. Pilsudski, ein oft erprobter Verschwörer, weiß, daß man zu einem solchen Coup das Militär braucht. Aber die Hauptfrage ist nicht, ob Pilsudski nach der Unterwerfung der Hauptstadt auch über die Provinz Autorität gewinnen, sondern ob ihm gelingen wird, für sein Land die dringend notwendige wirtschaftliche und seelische Erholungszeit zu schaffen. Von allen Nachfolgestaaten geht es Polen am trübsten. Zwischen Rußland und Deutschland eingepuffert, windet es sich in Angstträumen, die sich in grellen Großmachtsdelirien entladen. Ein gedunsener Militärkörper schlingt Finanzen und Wirtschaft, stellt alle Innenpolitik unter Terror. Polen hat in der ganzen Welt nicht einen wirklichen Freund; eine Tatsache, die schwerer wiegt als alle Bündnis- und Sicherungs-Verträge. Dem jungen Staat mit altem Volk hat von vorn herein ein Masaryk gefehlt, ein gütiger und strenger National-Schulmeister, dessen Katheder dennoch die Welt ist. Pilsudski wars nicht. Der war immer der neue Kosciusko, mehr irrlichternder Freicorpsführer denn Politiker. Auf sein Schuldkonto kommt der Zug nach Kiew, der zum kriegerischen Zusammenstoß mit den Sowjets und fast zur Katastrophe führte. Ein siegreicher Pilsudski wird nur dann zum Segen werden, wenn er aus den Krämpfen des Chauvinismus in die arbeitsreiche Wirklichkeit hineinführt. Das ist die Voraussetzung für die innere Gesundung, die nur durch Hilfe von außen, wie amerikanischen Kredit, kommen kann. Das heutige Polen gilt nicht als kreditfähig. Ohne eine harte und mutige Roßkur wird es in ärgere Verlassenheit sinken als Österreich in seinen Hungerjahren. Als Herd der Anarchie wird es für seine Nachbarn bald Drohung, bald Lockung zur Intervention bedeuten. Litauen, heißt es schon jetzt, würde eine länger dauernde Verwirrung zur Rückholung Wilnas benutzen, und wenn unsre »Vaterländischen« nicht im Augenblick durch die Putsch-Affäre etwas gehemmt wären, so hätte die Abenteurerei an der Ostgrenze wohl schon begonnen.

 

Pilsudski stammt aus dem alten russischen Polen; als Kämpfer gegen das Zarenregiment ist er in jungen Jahren zum Sozialismus gekommen. Wenn er auch stets Sozialist mit starker nationaler Färbung geblieben: im Rahmen der polnischen Verhältnisse ist er unbestreitbar Linksmann und Anti-Chauvinist. Seine erbittertsten Gegner jedoch waren früher deutsche oder österreichische Untertanen. Namentlich aus dem einstmals deutschen Posen kommt heute die stupideste nationalistische Reaktion und besonders deutlich verkörpert von einigen Herren, die früher als Deputierte im Reichstag geglänzt und vorschriftsmäßig Militär- und Marine-Vorlagen bewilligt haben. Die stolze Flotte des Herrn v. Tirpitz wäre ja ohne den Segen des polnischen Herrn v. Napieralski niemals vom Stapel gelaufen. Bei aller dummen Hakatisterei: rein zivilisatorisch hat Posen die preußische Verwaltung gut getan und von jener pittoresken Verschmutztheit befreit, die nun einmal das Merkmal andrer Landesteile bildet. Leider scheint diese nützliche sanitäre Pionierarbeit auf den Geist ohne Einfluß geblieben zu sein. Oder sitzt man nicht ungestraft Jahre hindurch im Reichstag? Die Alldeutschen können zufrieden sein: viel von ihrem Wesen ist in das polnische Vaterland eingegangen.

 

Der englische Generalstreik hat den Arbeitern nicht den Sieg, den Unternehmern aber auch nicht die erhoffte Diktatur gebracht. Solche Riesenaktionen sind fast immer Glied einer Kette; erst an einem gewissen Haltepunkt der Entwicklung erweist sich ihr episodischer oder epochaler Charakter. Wahrscheinlich werden die Gewerkschaftsführer, die Ergebnisse überschauend und über den Rechnungen schwitzend, den Streik seufzend eine Dummheit nennen, aber zugleich achselzuckend hinzufügen, daß es die größere gewesen wäre, ihn zu verhindern. Denn die Stimmung der Massen brauchte ein Ventil; kein Kompromiß im letzten Moment hätte die Spitze umbiegen können. Die fieberhafte Erregung würde sich in wilden Teilstreiks Luft gemacht haben: willkommener Anlaß für die Unternehmer, einzelne Gruppen zu dezimieren und damit das Gesamtbild der Arbeiterschaft zu schwächen. Das Bürgertum ist trotz seines Scheinerfolges verdrossen. Die Klügsten ahnen, daß in diesen Tagen viel von dem gemütlichen alten England zu Grabe getragen worden ist. Die Vorherrschaft der Industrie ist ernsthaft angetastet. In der Konservativen Partei drängt es zur Entscheidung, ob der weiterblickende Sozial-Pazifist Baldwin Führer bleiben, oder ob an seinen Platz ein Fanfaron und Muskelprotz treten soll, der den sozialen Krieg so führt wie England früher seine Kolonialkriege. Dann wird sich erst zeigen, ob Trotzki im Recht war, als er dem englischen Klassenkampf eine Steigerung von unerhörter, nie gesehener Brutalität prophezeite. Diesmal ging es, gemessen an kontinentalen Maßstäben, noch ganz friedlich zu. Wenn berichtet wird, daß der Ausnahmezustand Arbeiter und Polizei nicht gehindert hat, einen angesetzten Fußball-Match auszutragen, so regt sich in dem deutschen Beobachter, der bei Ausnahmezustand sofort an Noske und Geßler und Maschinengewehre und Zuchthaus denkt, ein Gefühl ehrlicher Bewunderung, das vielleicht auf einer Überschätzung der englischen Demokratie beruht.

Die Weltbühne, 18. Mai 1926


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