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Die Nase der Kleopatra

Si le nez de Cléopatra eût été plus court, toute la face de la terre aurait changée.

Pascal

Die Weltgeschichte wird gemacht von den kleinen Dingen, den schwerwiegenden Bagatellen, den schicksalsvollen Alltäglichkeiten. Die materialistische Geschichtsauffassung macht den Bauch zum alleinigen, absoluten Faktor. Die alte idealistische Geschichtsschreibung sah die Völker in ihrem Fressen und Saufen, im Lieben und Hassen vom Geiste gelenkt, diesen wieder in Körper gebracht durch einen Auserwählten. Und dafür sollten wir unsern Lehrern eigentlich dankbar sein, denn auf diese Weise entstehen die wohltätigen jahrhundertelangen Lücken, in denen es keinen großen Mann gibt und infolgedessen auch keinen durch einige Dutzend Jahreszahlen nur schwach ausgedrückten Betrieb und infolgedessen auch nichts zu lernen. Nur so ein paar Dichter oder Maler, die gar keinen Krieg zuwege gebracht haben.

Als Ludwig XIV. sich über ein zerbrochenes Fensterglas mokierte, arrangierte Louvois schleunigst irgendeinen Erbfolgekrieg, um Majestät etwas abzulenken. Dabei ging das Heidelberger Schloß in Flammen auf und wurde zu einer Nationalgefühl und Fremdenindustrie gleichermaßen fördernden Ruine. Es sind die kleinen Zufälligkeiten, die die Geschichte machen. Geringe Dinge, ohne Sinn, aber mit Konsequenzen. Hätte Louvois »Alt-Heidelberg« mit seiner Bierromantik vorausgeahnt, er hätte seinem König vielleicht geraten, Frau von Maintenon zu verabschieden oder Ball zu spielen oder sonst etwas.

Herr Dr. Horion war bekanntlich zum preußischen Ministerpräsidenten ausersehen. Er aber machte geltend, daß er sich nur für ein Jahr verpflichten könne, da er eine kranke Schwester habe. Man bat Herrn Horion dringend, etwas weniger Familiensinn zu entfalten, aber er blieb fest. Weil nun Herr[n] Horions Schwester kränkelt, deshalb muß jetzt Herr Marx sich in ein gewagtes Abenteuer stürzen, und Preußen entgeht den Möglichkeiten einer Regierung Horion. An solchen Seidenfäden hängen die Schicksale der Völker.

Als seinerzeit Herrn Michaelis die Kanzlerschaft angetragen wurde, zog er sich betend und fastend zurück, um einen luziden Moment zu erwarten. Schließlich fiel sein Blick auf ein Kalenderblatt und darauf stand gerade ein Spruch, aus dem sich für Michaelis ergab, daß er zum Schwerte des Herrn ausersehen, und er sagte innerlich gesammelt: Ja! Was aber wäre geworden bei einem andern weniger verheißenden Tagesspruch? Wenn da gestanden hätte, z.B.: Keine Rose ohne Dorn! oder was sonst so an weltschmerzlichen Erkenntnissen in Kalendern steht?! Dann hätte Michaelis wahrscheinlich die Finger davon gelassen und uns allen wäre wohler gewesen.

Wirklich, es sind nur die kleinen Dinge, die uns bald glücklich machen, bald tyrannisieren, aber immer beherrschen. Ich entsinne mich, im Dezember vorigen Jahres, als gerade die Regierungskrise heftig ausgebrochen war, Herrn Stresemann bei einer Operetten-Première gesehen zu haben. Es war eigentlich gar keine richtiggehende Operette von modernster Frivolität, sondern eine ehrenfeste patriotische Angelegenheit mit einem von seinem Volke vergötterten Fürsten, Militärmärschen und echten Grenadieren. Stresemann verfolgte den verwickelten Ablauf der Intrige mit sichtlicher Spannung, er zitterte mit Anneliese um ihren geliebten Erbprinzen, er senkte gedankenvoll das Haupt, als die Herzogin-Mutter mit dem Legitimitätsprinzip nicht ins Reine kommen wollte, er begrub diese schweren Gedanken unter munterem Applaus, als endlich die langen Kerle mit ihren Blechhauben und blauen Röcken über die Bühne marschierten. Er trommelte mit vaterländisch beschwingten Fingerspitzen auf der Logenbrüstung den Takt mit, als sich zum Schluß alles in Dessauer Marsch und Butter auflöste, und fuhr durch das Gesehene und Gehörte in seinem Glauben an das Volkskaisertum neu bestärkt nach Hause, entschlossen, die Krise dennoch zum Besten zu lenken, und sollte es auch noch sechs Wochen dauern.

Was aber wäre wohl geschehen, wenn Stresemann an diesem Abend weniger enthusiasmierende Eindrücke empfangen hätte? Wenn irgendeine Kleinigkeit ihn verhindert hätte, die belebenden nationalen Energien dieser Operette in sich aufzunehmen ...?

»Du weißt nicht, mein Sohn«, sagte schon der alte Oxenstjerna, »mit wieviel Musik die Welt regiert wird!«

Das Tage-Buch, 14. Februar 1925


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