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Glückliches Österreich!

Frau Olszewska stand auf den Brettern der Wiener Staatsoper und sang ein Duett mit Herrn Dr. Schipper. Hinter der Szene standen Frau Jeritza und Frau Kittel und unterhielten sich angeregt. Das störte Frau Olszewska, und als eine Mahnung zur Ruhe nichts fruchtete, da spie sie munter in die Gruppe hinein, Frau Kittel auf den Hals treffend. Die weiteren Ereignisse sind bekannt. Frau Kittel reagierte mit »Sie Wildschwein!« Frau Olszewska rief berichtigend, sie hätte den »Dreck die Jeritza« gemeint. Frau Jeritza fällt in Ohnmacht, Frau Kittel wird trockengelegt, Frau Olszewska entlassen.

Das ist alles nicht so schrecklich und kann auch wo anders vorkommen. Wird überall Sensation machen. Aber nur in Wien versteht man ein solches Gericht wirklich lecker zu bereiten. Die Öffentlichkeit teilt sich sofort in eine Olszewska- und eine Jeritza-Partei. Fiebernd vor Erregung verfolgt der Mann auf der Straße jede Phase des formidablen Duells. Natürlich hat jede Partei ihre Presse. Und diese Presse versteht es, einzuheizen. Tag für Tag spaltenlange Berichte über alle Einzelheiten des dramatischen Vorganges. Von der Lokalseite rückt die Affäre en échelon über den Feuilletonteil in die politischen Kolumnen der ersten Seite, wo sonst Leitartikel über Herrn Chamberlain oder die langwierige belgische Kabinettskrise aufgebahrt liegen. Der Oberpolitikus des Blattes »nimmt Stellung«. Ist der erste Eifer abgekühlt, wird die Spucke gestreckt, rationiert, eingeweckt für die nachrichtenarmen Hundstage. Wir schreiben jetzt Mai. Wer weiß, ob sie nicht im August wieder eisgekühlt auf der Szene erscheint.

Man findet in Reichs-Deutschland gewöhnlich nicht genügend Verständnis für diese österreichischen Eigentümlichkeiten. Man schüttelt den Kopf oder sagt noch einfacher: Total meschugge! Das heißt die psychologischen Wurzeln dieser spezifisch österreichischen Form deutscher Gründlichkeit übersehen. Österreich, durch die Friedensverträge zum Wiener Vorort reduziert, hat keine Politik mehr. Lokale und lokalste Ereignisse treten an den ersten Platz. Tagesgeschichten von Liebe, Ehe und Diebstahl, sonst in ein paar Petitzeilen abgetan, füllen ganze Seiten. Man hat zwar ein Außenministerium, aber keine Außenpolitik. Herr Zimmermann, der die Finanzen kontrolliert, macht das so nebenbei mit. Gelegentlich gibt es Reibungen, dann erheben die Zeitungen ein Mordsgeschrei, und man nennt das in köstlich schelmischer Überheblichkeit Politik. Was liegt Wien an den Welthändeln, weit in der Türkei und in Pommern? Hauptsache, daß Betrieb da ist. Diesem Zweck aber dient ein Opernskandal ebensogut wie etwa ein Parlamentsskandal. Die Bewegung ist alles, das Endziel nichts. Man erhitzt sich zwar rechtschaffen, aber es wird schließlich nichts so heiß gegessen, wie es gespuckt wird.

In Deutschland zerschlägt man sich um Schwarzweißrot und Schwarzrotgold die Köpfe. In Rußland, wer die marxistische Rechtgläubigkeit hat. In Frankreich brütet Millerand Rache. In Italien fühlt sich Mussolini mehr und mehr von der Opposition zerniert. Und so weiter. England verstärkt seine Luftflotte. Amerika und Japan rüsten. Spanien und Frankreich fechten mit den Kabylen ihr Sträußchen aus.

Andere mögen Kriege führen, du glückliches Österreich ... spucke!

Das Tage-Buch, 23. Mai 1925


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