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Idiotenführer durch die russische Literatur

Es gibt Bücher, die von der ersten Zeile an fröhliche Zustimmung finden und unter scheinbarer Mehrung von Wissensgut den Nutzen oder Schaden stiften, vorhandene Meinung zu kräftigen und zu konservieren. Und es gibt andere, die den Widerspruch wie eine grelle Fahne wehen lassen, beim Lesen dreimal zugeklappt, mit einem Fluch endlich weggelegt werden und doch im diebessicheren Schubfach der Gesinnungen eine kleine Sprengpatrone zurücklassen. Wem vor solcher Konsequenz nicht bangt, dem sei Sir Galahads »Idiotenführer durch die russische Literatur« empfohlen (bei Albert Langen erschienen). Das ist ein schmales Bändchen von höchst ansehnlicher Stechkraft, nicht etwa eine Travestie, zu welcher Annahme der Titel verleiten könnte, sondern eine glänzend gerittene Attacke gegen die russische Literatur von Puschkin bis Gorki, gegen russisches Wesen von Rurik bis Lenin, gegen die Vergottung Tolstois und Dostojewskis außerhalb Rußlands.

Eine Analyse des Buches, die naturgemäß alle Einwände umfassen muß, soll hier nicht versucht werden. Nur soviel: hier kämpft ein leidenschaftlich abendländischer Kopf mit Pathos und Witz dagegen, daß man von russischen Literaturdingen immer nur »mit Ehrfurcht«, immer nur mit verdrehten Augen sprechen soll. Er untersucht mit unerbittlicher Präzision den russischen Geist und fragt, ob es berechtigt sei, ihm auch nur eine unserer alten und neuen Positionen zu opfern. Rußland, das ist des Buches bewegender Einfall, Rußland, das ist nicht Schicksal, Religion, Gestalt, das ist das Dahindösen einer amorphen Masse, mit dumpfem Körperleben und ungespültem seelischen Sein. Rußland, das bedeutet Entwicklungslosigkeit, Profillosigkeit, tausendjährige Stupidität, verbrämt mit Weltherrschaft- und Welterlösungträumen. Da die Individualgesichter fehlen, päppelt man die Not zur Tugend. Von den frühesten Literaturanfängen an rückt der Dummkopf, der Untermenschliche, der »Idiot« zur Mittelpunktfigur. Der geistig Geradegewachsene wird zum Sünder, dem Kretin gehört nicht nur das Himmelreich, schon auf Erden umwittert ihn Auserwähltheit, und sich vor ihm zu demütigen, wird eine Art Nationalreligion: »Mit der Inthronisierung des Idiotenideals in der russischen Literatur aber beginnt nun die Welthetze gegen den vornehmen Menschen und die Vornehmheit als Qualität.« Minderwertigkeit als Weltgesetz, das ist der letzte Sinn des Panslavismus, ist das tiefste Prinzip des Bolschewismus mit seinem Ritus des »Kollektivmenschen«.

Das, was hier flüchtig angedeutet, schreibt Sir Galahad mit unerhört spitzer Feder nieder und mit der weißglühenden Gehässigkeit des geborenen Pamphletisten. Es gibt da keine freundlichen Konzessiönchen, sondern nur eine alles ekrasierende Besessenheit für die Idee. Man kann sagen, der Haß sei kein Maßstab, man kann These und Beweis ablehnen. Man kann sich aus der Entrüstung in den Spott flüchten. Gut. Aber ein Stachel bleibt doch. Das Problem sieht ... anders aus als vorher. Das Russenevangelium ist nicht mehr unantastbar. Die Kritik hat begonnen.

Das Tage-Buch, 13. März 1926


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