Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

525

Der gestohlene Vollbart

Ein Herr aus der Provinz kommt nach Berlin. Teils um Geschäfte abzuwickeln, teils ... Das zweite Teils überwiegt nach kurzem. Er flaniert durch das friderizianische Viertel, der freundlichen Tradition dieses gesegneten Himmelsstriches voll. Er hat bald eine Gefährtin gefunden, die bereitwillig seine Freude teilt. Man besucht Stätten ausgelassener Lust und kommt schließlich überein, mit Weinlaub im Haar, in einem diskreten Privathotel die höchste Staffel des Glücks zu erklimmen.

Dann verläßt unsern Helden das Gedächtnis. Als er am nächsten Morgen erwachte, fand er sich allein. Er betastete sein Antlitz, um sich zu vergewissern, ob er träume oder wach sei, und es muß gesagt werden, seine Zweifel waren nicht so bald gelöst. Er fand sich verändert. Seine Finger verwickelten sich nicht wie sonst in den dichten Maschen eines stattlichen Bartes, sie fuhren über ein aalglattes Kinn. Der Vollbart war fort.

Herbeigeeilte Polizei stellte den Sachverhalt fest. Während der Mann in tiefem Schlaf lag, hatte die Schöne sein Gepäck und seine Brieftasche durchstöbert und zu ihrem Schrecken gefunden, daß er in der Geldkatze zu wenig, was er am Kinn zu viel hatte. Rachegefühle erfaßten sie. Denn die Töchter der Straße sind die rigorosesten Anhängerinnen der kapitalistischen Moral. Sie sind fest davon durchdrungen, daß, wer kein Geld hat, auch kein Recht hat, sich ein Vergnügen zu leisten. Und so erhob sie denn als Vertreterin einer zwar nicht legalen, aber durch eine Geschichte von Jahrtausenden beglaubigten Institution ihrerseits Lustbarkeitssteuer. Sie hätte Bekleidungsstücke nehmen können, auch die restlichen Moneten, sie tat es nicht. Sie nahm eine Schere und schnitt ihm den Bart ab und rasierte dann mit einer Giletteklinge Wangen und Kinn glatt.

Warum gerade diese absurde Form von Revanche? Handelt es sich um einen bösartigen Akt deutschabträglicher Gesinnung? War sie eine Agentin Zions, dazu bestimmt, einen der letzten noch übriggebliebenen Cheruskerbärte heimtückisch zu entfernen?

Schwierige Frage. Aber vielleicht kann ein Haarhändler und Perückenmacher irgendwo tief in den Winkeln der südlichen Friedrichstadt darauf Antwort geben.

Montag Morgen, 23. Februar 1925


 << zurück weiter >>