Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

634

Das Verbrechen der Schwester Flessa

Berlin, 5. April.

Am Nachmittag des 28. Oktober vorigen Jahres wurde der praktische Arzt Dr. Seitz in Frankfurt a.M. im Treppenflur seiner Wohnung in der Witteisbacher Allee von drei Schüssen niedergestreckt aufgefunden. Herbeieilende Hausbewohner sahen eine Frau, die sich um den Verwundeten bemühte, und sie verstanden, wie sie sagte: » Hals auf, Kragen weg Kampfer her!« Dann aber, bekunden die Zeugen, begann sie zu lamentieren und sich in heftigsten Vorwürfen gegen den zu Tode Getroffenen zu ergehen. Nicht einmal, als sich der schnell herangeholte Arzt über den Sterbenden beugte, ließ der hysterische Ausbruch nach. (Der Arzt behauptet, es sei ihm infolge des Gelärmes unmöglich gewesen, das Herz zu auskultieren.)

Bei der Festnahme versucht sie vergeblich, Gift zu nehmen. Auf dem Revier werden die Personalien festgestellt: Wilhelmine Flessa, aus Nürnberg, 35 Jahre, Krankenschwester.

Vor einer Woche wurde sie von dem Schwurgericht Frankfurt wegen vorsätzlichen Mordes zum Tode verurteilt.

Während der Verkündung sprang die Angeklagte auf und schrie in den Saal: » Alle Männer haben sich gegen mich verschworen!«, und brach aufheulend zusammen.

Das Plaidoyer des Anklägers

Wenn man das Plaidoyer des Staatsanwaltes durchackert (dem sich die Urteilsbegründung anschloß), so fällt auf, daß moralische Zensurprädikate mehr Raum beanspruchen als Tatbestand: »Sympathische Züge habe die Angeklagte wenige gezeigt, ebenso wenig Reue offenbart. Nicht erwiesen seien intime Beziehungen zwischen ihr und dem Getöteten. Die Flessa habe ihre große Energie in den Dienst des Hasses gestellt. Aus Eitelkeit und Eifersucht sei der Vernichtungswille entstanden. Erotische Begehrlichkeit habe sie zu kalt überlegtem, sicher durchgeführtem Mord getrieben.«

Erotische Begehrlichkeit. Das geht auf das kleine schmächtige Wesen auf der Anklagebank. Das konfus durcheinanderredet und beteuert, der Getötete sei der erste und einzige Mann seiner Liebe gewesen. Zeuginnen und Zeugen marschieren auf, die aussagen, die Flessa habe den Arzt mit ihren Anträgen verfolgt. Seit 1923, da sie mit ihm zusammen beim Roten Kreuz arbeitete. Einmal habe er sich dazu verleiten lassen, sie in ihrer Wohnung zu besuchen. Aus Gutmütigkeit. Er habe sie indessen niemals ernstgenommen. Gott, eine die nachläuft, abends hinterm Baum lauert, um ihn zu sehen, was bedeutet die schon? Eine Dame, die zu ihm Beziehungen hatte, sagt aus: Schon längst habe die Flessa dem Arzt Todesdrohungen zukommen lassen; seit Monaten schon habe sie den Revolver besessen, den sie, an jenem schwarzen Oktober-Nachmittag, entsichert!, mit sich führte.

Die Sachverständigen bestätigen ihre gute Intelligenz, trotz schwächlichen Körpers. Patienten, die sie pflegte, bekunden ihre pflichttreuen, aufopferungsvollen Dienste als Schwester.

»Die Flessa stellte ihre große Energie in den Dienst des Hasses.« Also das Gericht.

Eine unsympathische Person

Diese zersetzenden, defamierenden Worte gehen auf das schmächtige Persönchen, das sich darunter wie unter der Peitsche windet und der geschulten Dialektik des Prokurators nicht mehr entgegensetzen kann als wirres Gestammel und ohnmächtige Schreie. In die Enge getrieben, rettet sie sich wie jede Hysterika in den »Anfall«. Nein, sie ist nicht sympathisch.

Sie ist keine jener pikant aufgemachten Privatschwestern, die der Rekonvaleszent in Anerkennung treuer Pflege nachher schräg übers Bett legt. Ein Arbeitspferd trotz jämmerlicher Physis. Erblich schwer belastet. Vater Alkoholiker. Traurige, entbehrungsvolle Jugend. Heute 36 Jahre. Ein Mädchen im Welken, das Blüte nie kannte. Zwischen 20 und 30 schuftend und rackernd. Nachtwachen bei Delirierenden. Tags kargen, unruhigen Schlaf, bis der Wecker wieder rasselt. Unerwachtes, wunschloses Weibtum. An solchen läuft die Zeit vorüber. Männer huschen wie Schatten vorbei, ehe noch ein Begehren an einen sich klammern könnte.

1923 arbeitet sie mit dem Dr. Seitz zusammen. Stattlicher Vierziger. Breites joviales Temperament. Ein Mann, der nicht hinter den Frauen herzulaufen braucht. Er ist nicht weibsversessen. Wenn ihn Blicke anschmachten, nimmt er eben eine. Aus Gutmütigkeit.

Die mit 33 Jahren Unberührte vergafft sich hemmungslos. Sie hat für drei Jahre keinen andern Gedanken als ihn. Oft sieht sie ihn lange nicht. Dann taucht sie plötzlich wieder in seiner Sphäre auf, werbend, flehend ... drohend. Verfolgt ihn mit hirnverbrannten Einfällen. Sie wolle nicht seine Frau werden, sondern nur ein Kind von ihm haben. Sie erkundigt sich gewissenhaft, ob Vaterschaft ihn etwa zu Alimentationsverpflichtungen zwinge. Das müsse ihm natürlich erspart bleiben, sie werde schon selbst für das Kind sorgen.

Man weiß nicht, was zwischen den beiden vorgegangen ist. Für diesen Teil der Verhandlungen war die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Das Gericht nimmt jedoch nicht an, daß intime Beziehungen vorlagen. Immerhin, einmal hat er sie in ihrer Wohnung besucht, weil sie so sehr drum bat. Aus Gutmütigkeit. In der Untersuchungshaft erklärte sie, er habe »schuftig« an ihr gehandelt; der Verkehr sei ein »anormaler« gewesen. Vor Gericht wieder jammert sie, unendlich habe sie ihn geliebt.

Hat sie ihm gehört oder nicht? Das Gericht verneint die Frage kurzweg. Das feine Schönheitsempfinden des Herrn Staatsanwaltes scheint sich gegen die selbst nur einmalige körperliche Vereinigung zwischen einem stattlichen und angesehenen Manne, Akademiker!, und einem kümmerlichen Proletarierwürmchen zu sträuben.

Phantasien eines unausgekochten Empfindungslebens knoten Widersprüche dick zusammen. Niemand, der hier behutsam auseinanderbosseln, niemand, der die kranke Unaufgeschlossenheit dieser armen Seele lösen möchte. Die Justiz appliziert gegen solche Verknotungen das Fallbeil.

Der erste Schuß

Doch, einmal, mitten in einem wirren, mehr überführenden als entlastenden Gerede, fällt ein Wort, das stutzig machen müßte. Sie sagt, sie sei nicht hingegangen, ihn zu töten, sie habe den Revolver nur mitgeführt, um ihm Respekt einzuflößen. Wären die Begutachter nicht nur gerichtliche Sachverständige gewesen, die Wissenschaft mit Sittenzeugnissen vermengen, sondern Seelenkundige, hier hätten sie einhaken müssen. Hier war ein völlig neuer Blickpunkt.

Der Gerichtsarzt meint, die Tat sei lang- und wohlüberlegt gewesen. Keine Affekthandlung. Beileibe nicht. Aber schon der sachverständige Gerichtschemiker, Professor Dr. Popp, bekannt als der Entlarver Angersteins, läßt einen letzten Zweifel an Mordabsicht offen. Er will nicht voll bejahen, ob von den drei Schüssen der erste tödliche, ein Herzschuß, willentlich war. Nach dem Befund erfolgte der Schuß in ansteigender Richtung, und die Angeklagte müsse dabei eine Drehung mit dem Ellenbogen gemacht haben. War zwischen den beiden ein Ringen vorgegangen? Hatte der Arzt die Zeternde, die ihm den Revolver vor die Brust hielt, abgewehrt, und war dabei der entsicherte Revolver losgegangen? Charakteristisch nur: Professor Popp, als Autorität anerkannt, sieht noch immer ein Bruchteilchen, welches Zweifel übrig läßt. Ein winziges, lächerliches Bruchteilchen nur. Doch er weiß: Spricht er hier positiv, dann fällt das Beil. Und deshalb läßt er eine bescheidene Möglichkeit frei.

Die Verteidigung führt aus, die Tat lasse sich weder als Mord noch als Totschlag qualifizieren, es könne nur von fahrlässiger Tötung die Rede sein. Das Gericht erkennt auf Todesstrafe. Wegen »mit ruhiger Überlegung ausgeführten Mordes«. Die Angeklagte sei auch gar nicht sonderlich erregt gewesen. »Wäre sie in Erregung gewesen, so wäre dieser Erregungszustand durch den zu Boden stürzenden Dr. S. gesteigert worden. Aber was war der Fall? Die Angeklagte hat die einzige Anordnung gegeben, die ein zielbewußtes Handeln verrät: Hals auf, Kragen auf, Kampfer her! Aus allen diesen Gründen hat das Gericht die Frage nach dem Mord bejahen müssen.«

Kampfer her!

»Respekt ...«

Lebenslauf und Entwicklung der Angeklagten, das unnatürlich lange Schweigen jedes Weibsverlangens in ihr, ebenso wie die skurrile Kurve ihrer jäh erweckten Sexualität, alles das stellt sie als klassisches Studienexemplar der Psychopathin aus. Doch alles, was sie entlasten könnte, tut das Gericht nicht etwa nur als unwichtig beiseite, sondern kehrt es sogar als Spitze gegen sie. Dieses »Kampfer her!« soll für einen Mangel an Erregung sprechen? Das Gericht stellt nicht in Rechnung, daß auch bei diesem exaltierten Weibe beim Anblick des Stürzenden, des sich verfärbenden Gesichtes, der krampfhaft an dem Kragen nestelnden Finger die berufsmäßige Samariterin erwacht und mechanisch erste Hilfeleistung vornehmen will. Und es hat doch schon Attentäterinnen gegeben, die, plötzlich nüchtern werdend, in dem Hingesunkenen den Mann ihrer Liebe erkannten, und verzweifelt die Nachbarn alarmierten.

Die Flessa behauptet, sie sei nicht mit Mordabsichten gekommen. Da nach dem Gutachten Professor Popps der Tatbestand immerhin nicht hinreichend geklärt ist, durfte das Gericht nicht einfach die weißen Steinchen ignorieren. Sie sagte, sie hätte dem Doktor Seitz mit dem Revolver »nur Respekt« beibringen wollen. Wenn das schon Wahnsinn ist, wer will diesem Wahnsinn Methode und Logik absprechen? Man konfrontiere doch nochmals die beiden Hauptpersonen des Dramas. Er: Der stattliche, angesehene Mann. Sie: Eines jener spärlichen Wesen, die höchstens einen verstohlenen Blick über die Barriere senden, die sie von dem Vergötterten trennt. Nachdem sie aber die Barriere übersprungen und die Scheu überwunden hat, nachdem sein Besuch stattgefunden hat – aus Gutmütigkeit?! –, da sind auch alle Nympheninstinkte in ihr erwacht und für drei Jahre wird ihr Leben nur eine Jagd hinter ihm. Der alltägliche Konflikt: Hier Episode, da Lebensinhalt, verzehrt sie. Das ist die Jagd hinterm Schatten. Einmal will sie ihn noch beschwören. (Erotische Begehrlichkeit, meint das Gericht.) Einmal will sie ihn noch festhalten. (Eitelkeit und Eifersucht. Das Gericht.) Und dann formt aus wirrem Wunschleben sich die verrückte Idee: Einmal ihn, den ewig Fliehenden, zu bannen, einmal ihn, der nicht in Wollust vor ihr zu beben vermag, in Angst vor ihr beben zu sehen, einmal nur Respekt, Respekt! Wenn er schon vor der dürftigen Gestalt nicht verlangend zittern kann, dann wenigstens, irgendwo im Halbdunkeln, vor der Mündung der Pistole.

Wie aus dem Spiel Ernst wurde, ob er sich auch von dem gereckten Schießeisen nicht imponieren ließ, sie lachend beiseite schob, ob sie, sin[n]los geworden, daß nicht einmal der drohende Revolverlauf ihm Respekt einflößte, abdrückte, das sah kein Zeuge. Nur daß der erste Schuß willentlich abgegeben wurde, bejaht der dafür maßgebliche Sachverständige nicht völlig.

Das Gericht verkündete Todesurteil und Ehrverlust.

Die Verteidigung hat Revision eingelegt.

Epilog

Während der Verlesung des Urteils sprang die Flessa auf und schrie: »Alle Männer haben sich gegen mich verschworen!«

Die Angeklagte irrt. Aus den bösen, defamierenden Sätzen der Begründung spricht nichts typisch Männliches. Eher schon Corpsstudentisches. Der flotte Bursch fühlt sich in seinen heiligsten Privilegien bedroht. Daß aus dem Umgang mit einer guten Bürgertochter unangenehme Verpflichtung wachsen kann, begreift er, daß aber aus einer einmaligen Sexualgefälligkeit für ein nicht mal hübsches Proletariermädel (aus Gutmütigkeit!) eine Sache auf Leben und Tod werden kann, dagegen bäumt sich etwas. Streng und abschließend fallen die Schlagbäume des Kastenbewußtseins.

Daß alle Liebe, von der kleinen Liaison bis zur brennenden Leidenschaft, irgendwie mit Tod verknüpft ist, diese uralte schmerzliche Erkenntnis, von Dichtern immer wieder besungen, das fällt nicht in die Kompetenz des Gerichtes. »Ein jeder tötet, was er liebt ... Der Feige tut's mit einem Kuß, der Tapfere mit dem Schwert.« So sagt Oscar Wilde. Aber der war ja auch kriminell.

Schade um den Doktor Seitz, den jovialen, lebensfrohen Mann, der ein so häßliches Los ziehen mußte. Über eine durchschnittliche Schlafzimmer-Burleske fallen plötzlich die schweren Schatten der Tragödie.

Übrigens hat die Schwester Flessa am Tag nach der Verurteilung wieder einen Selbstmordversuch unternommen.

Merkwürdig, daß immer nur die Objekte der Justiz solche pessimistischen Anwandlungen haben.

Es gehört doch, scheint es, eine bessere Konstitution zum Richten als zum Töten.

Montag Morgen, 6. April 1926


 << zurück weiter >>