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Der verlorene Onkel

In jeder Familie gibt es einen Onkel, der nicht gut tut. Er ist der schwarze Schatten, der bei frohen Festen drohend über den Tisch fällt. Man spricht von ihm nur im Flüsterton und dann immer in Verbindung mit Rechnungen und rabiat werdenden Gläubigern. Er bringt in die nebeldicke bürgerliche Atmosphäre den Brandgeruch tropischer Temperamente. Er hat tief in den Apfel der Erkenntnis gebissen, aber seine Erkenntnisse sind durchweg finanztechnischer Natur. Die entente cordiale der Tanten und Cousins wird zur Reparationskommission, nur daß diese, Leid im Herzen, nicht Summen fixiert, sondern selber blecht.

Der verlorene Onkel besucht bis zum 18. Lebensjahr das Gymnasium und soll Pastor werden. Dann nimmt man ihn von der Schule. Schon haben die Gastwirte jeden weiteren Kredit gesperrt und die Bekannten bringen ihre jungen Töchter nicht mehr mit ins Haus. Die geistliche Karriere ist beendet; er wird zum Apotheker degradiert. (Warum? Enthält dieser Beruf besondere moralische Antitoxine?) Er selbst will zum Theater, und ein gutherziger Schwager proponiert, es noch mal mit dem Pastor zu versuchen; es wäre doch jammerschade um diese große Schnauze.

Bis dahin wickeln sich die Lebensläufe aller verlorenen Onkel ziemlich gleichartig ab. Dann teilt sich die Linie. Die Missetaten nehmen subjektive Färbung an. Mein Onkel Dieudonné (an ihn halte ich mich) kam nicht zur Apotheke, denn der alte Giftmischer protestierte mit Hinblick auf eine bildhübsche Nichte. Dieudonné kam in die Kaufmannslehre. Kurze Pause, mit Hoffnungen ausgefüllt, wie ein Puppenbalg mit Papier und Hadern. Man rühmte seine Begabung: er kann ja so gut rechnen! Und ob er rechnen konnte! Nach kurzer Zeit war er schon bei einem anderen Kaufmann. Wieder rosige Aspekte: er schlägt doch noch gut an! Dann plötzlich erregte Besprechungen, Familienkongreß hinter verschlossenen Türen, Experten kommen und gehen; Dawes-Bericht. Papa spricht zu meiner weinenden Mutter das Schlußwort: »Diesmal will ich die Bürgschaft noch übernehmen. Schließlich ist es dein Bruder ...«

Bald darauf hatte Dieudonné wieder nicht gut getan, und es ließ sich nicht verheimlichen: diesmal war er hopp genommen. Dennoch lief er vierzehn Tage später wieder frei herum. »Er hat simuliert,« sagte Tante Dorchen scheu bewundernd. Ich wußte nicht, was das war, respektierte aber Dieudonne von nun an als mit übernatürlichen Kräften equipiert.

Eilen wir über die nächsten unwichtigen Etappen hinweg. Beginnen wir wieder mit dem Tag, an dem Mama traurig war und Papa mir verbot, in die Gerätekammer zu gehen. Ich aber schlich am späten Abend fiebernd vor Neugierde doch auf den Flur und sah, wie sich die Kammertür leise öffnete und ein Herr herauskam, die Pelzmütze bis über die Nase gezogen und auf Zehenspitzen entschwand. Am nächsten Morgen meinte Papa aufseufzend: »So, jetzt ist er bald in Holland, hoffentlich schnappen sie ihn nicht an der Grenze«.

Die nächsten Jahre ergeben nur ein fragmentarisches Bild. Dieudonné schrieb selten und wenn, dann um Geld. Wenn es zu wenig war, nannte er uns »undankbare Bande«.

In Holland etablierte er nach bescheidenen Tastversuchen eine Pferde-Lotterie. Ein Unternehmen, das sich aussichtsreich anließ, aber kurz vor der ersten Ziehung zusammenbrach. Er aber ging in ein anderes Land und nahm ein Weib.

In London tauchte er wieder auf als Souffleur am jiddischen Theater. Nacheinander erprobte er sich als Sprachlehrer, Reporter, Wasserdoktor, Hilfsarbeiter am Viehhof, nächtlicher Tourist an den Katharinen-Docks und Erfinder eines unfehlbaren Bandwurmmittels. Zwischendurch verwaltete er die Kasse einer ländlichen Baugenossenschaft. Nachdem das geschehen war, ging er in ein anderes Land und nahm ein Weib.

Gelegentliche mündliche Zeugnisse ergänzten die kargen schriftlichen Berichte. Ein Bekannter wollte ihn am Sonntag im Hyde-Park gesehen haben, fromm die Apokalypse auslegend, ein zweiter in Monte Carlo als Lord Edinburgh, ein dritter in Paris als Statist in »Robert der Teufel.«

Und eines Tages war er wieder da. Fein in Kluft und mit Geld in der Tasche. Er hatte eine Frau mitgebracht, die nur holländisch sprach und wirklich recht équivoque aussah. Familienrat, aufweichende Stimmung (Er ist doch ein anständiger Kerl!); Versöhnungskaffee. Er war wirklich nett, er spielte Klavier und sie sang dazu in einer Sprache, die nicht einmal holländisch war. Doch als dann die Likörflasche kreiste, da wurde sie auch ganz nett. Die männlichen Teilnehmer des frohen Festes fühlten das Bedürfnis nach eingehenderer Verständigung, und Onkel Otto holte aus der Küche eine Dose mit van Houtens Kakao, deren Etikette das Diktionär ersetzen sollte. Aber da trat schon ein munterer Nachbar ein. Die Holländerin sehen und schmettern: »Mannekens, klabastered op de beesters!« war eins. Auf dieser Basis entwickelte sich nun eine flüssige Konversation. Leider wurde die treuga dei gestört durch das Erscheinen einer grellen, lärmenden Frauensperson, die nur französisch sprach, meinen Onkel »chéri, ah, mon chéri!« nannte und die Holländerin beschimpfte. Onkel Dieudonné stand indessen seelenruhig am Klavier, die Nase keck in die Luft geworfen, eine rotblonde Locke fiel kokett über die Schläfe, so stand er lässig da, ein hübscher, frecher Junge und trällerte: »Oh, wie so trügerisch ...« So hat lange Jahre in mir sein Bild, meine Phantasie romantisierend, gespukt.

Die Lösung der Situation erfolgte merkwürdig genug durch mich. Ich stand am Fenster und rief in kindlicher Verständnislosigkeit in den Streit hinein, daß auf der anderen Straßenseite seit geraumer Zeit ein Herr stünde und immer zu uns heraufgucke. Da wurde mein Onkel sehr blaß und rief seinen Damen etwas zu, was weder französisch noch holländisch war, aber von beiden sofort verstanden wurde, und ehe wir uns recht versahen, war die Troika in schönstem Einvernehmen über die Hintertreppe davongefahren.

Über ein Jahr blieb er stumm. Dann schrieb er aus Warschau, er sei Tierbändiger geworden und außerdem ein Opfer der damit verknüpften Unannehmlichkeiten. Er klagte bitter. Es war sein erster wirklich sentimentaler Ausbruch. Neulich erst habe ihm der große nubische Löwe seine majestätische Stampiglia – um es im heute überwundenen Naturalismus der neunziger Jahre zu sagen – auf den Popo gedrückt. Er liege nun infolgedessen seit vierzehn Tagen auf dem Bauch, und das koste eine Menge Geld. Wir schickten ihm welches. Er ließ die Menagerie, ging in ein anderes Land und nahm ein Weib.

So wanderte Dieudonné, mein Onkel, noch durch viele Schlafzimmer und Volkswirtschaften, überall mindestens seine geistigen Bertillon-Maße hinterlassend. Schließlich muß er die Landstörzerei satt bekommen haben, er wurde seßhaft, nahm definitiv ein Weib und machte nur noch legale Geschäfte, aus dem unerschöpflichen Born seiner Erfahrungen stets neu fruktifizierend. Nach ein paar Jahren war er ein reicher Mann.

Ich war damals in dem Alter, das sich selbst so ungeheuer problematisch vorkommt, und wollte mit Gewalt zum Theater. Die entente cordiale opponierte sehr wenig cordial. Da kam Onkel Dieudonné zum Besuch. Jetzt wußte ich, wer mein Fürsprecher sein sollte. Noch immer geisterte in meinem Kopf die pittoreske Piratenfigur mit der rotblonden Locke über der Schläfe und den beiden Frauen, die sich um ihn rauften.

So ging ich zu ihm. Und trat, Deklamationen im Herzen, vor ... einen dicken, runden Herrn, mit roter Nase, kleinen blinzelnden Äuglein und Doppelkinn IIIa. Ja, vor mir, da stand ein plumper, ordinärer Philister, eine schwarze Zigarre zerknautschend.

»Was, zum Theater willst du? Na, ich möchte dir gleich die Tracht Prügel geben, die dir deine Eltern zu wenig gegeben haben. Ich will dir eines sagen, mein Junge, werde Apotheker, das ist am besten für solche Taugenichtse. Das vertreibt die dummen Gedanken!« Und er lachte dazu ein echtes, dummes, breites Spießerlachen. Und dann kam seine veritable Gattin, die mich mit Wehmut an seine Damen von damals zurückdenken ließ.

Ich ging um einen Traum ärmer. Ich haßte, verachtete ihn. Ich begann, nicht gut zu tun. Man experimentierte mit mir herum und ich antwortete mit verdoppelter Bosheit. Die Jahre gingen, kleine Neffen kamen, und seitdem bin ich selbst ein verlorener Onkel.

Das Tage-Buch, 16. Mai 1925


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