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Das Fragezeichen hinter Raskolnikoff

Unter den vielen Seltsamkeiten aus dem Fall des Massenmörders Angerstein hebt sich die eine am schärfsten heraus und ist deshalb wohl auch am wenigsten beachtet worden: – daß nämlich dieser des achtfachen Mordes Überführte im Gefängnis an die zwölf Pfund zugenommen hat und daß er, der zeitlebens von Schlaflosigkeit Geplagte, seit seiner Tat sich einer vorzüglichen Nachtruhe erfreut.

Man hielt sich nicht lange mit der Deutung auf, unterdrückte die immerhin beunruhigend nahe Frage, multiplizierte ganz einfach die gerichtlich festgestellte Bestialität des Mannes mit 10 000. Was, dieses Scheusal ißt und trinkt und schläft?! Der hat gefälligst unter seinem Kainsmal zu ächzen, sich nachts wimmernd auf der Pritsche zu wälzen, das kurze Dämmern verwünschend, das ihm nur Alb und Traumgespenster bringt und nicht Erquickung. Das ist die Tradition.

Literatur präokkupiert unsere Phantasie. Wir erwarten normale Komposition des Dramas. Wir sind erbost, wenn es sich nicht in hergebrachter Weise formt. Was sollen wir mit einem Missetäter beginnen, der die klassische Dramaturgie mißachtet?

Warum hat der dürftige Kleinbürger, den sie in Limburg aburteilten, nicht etwas Zerknirschung markiert, die berühmte »ehrliche Reue« gezeigt? Wie viele nette Züge hätten sich nicht unverhofft an ihm entdecken lassen. Oder wäre er nur frech gewesen, zynisch und roh, voll dreisten Hohnes, die Kritik würde ihm den scheußlichen, aber imponierenden Charakter shakespearischer Mörder attestiert haben. Unglücklicherweise wurde er weder lamentabel noch unverschämt, sondern blieb unerschütterlich korrekt. Er ersuchte um bessere Kost, um den Anstrengungen der Verhandlungen gewachsen zu sein, so wie ein Pensionsgast höflich darauf aufmerksam macht, daß er für sein Geld eigentlich noch eine Süßspeise beanspruchen könne ...

Oder, himmlischer Pirandello, hast du in das Ressort dieses irdischen Kollegen eingegriffen und den Siebenten an den verkehrten Autor geraten lassen?

 

Red' ich von dir, red' ich von ihm, Gewissen,
du Schreckgespenst auf meinem Pfad ...?

Aus einer alten englischen Tragödie. Steht als Motto über »William Wilson«, Poes grausigster Schuld-und-Sühne-Geschichte.

Wirklich ... Schreckgespenst? Zischen der Nattern des Abgrunds, Vision aufbrechender Wunden – gibt es das ... wirklich? Hat nicht hier die Literatur, als furchtbare Ergänzung jener Gerechtigkeit mit Ruten und Beil, imaginäre Pönitenzen erfunden, von denen der Richter sich nichts träumen läßt? Hat sie nicht erst das kalte, nüchterne Gerüst des Verbrechens mit dem Purpur einer sinistren Majestät umkleidet? Qualen ersonnen, auf die keines Folterknechtes Phantasie kam, indem sie dem Missetäter das Inferno in die Brust setzte ...?

Aber Angersteins Speck scheint mir unheimlicher als Raskolnikoffs hohle Wangen.

Der Verbrecher der Dichtung, der der Verbrecher unserer Vorstellung ist, springt aus dem Alltag heraus ins Ungemessene, in die Region böser Geister und ewigen Unfriedens. Dieser Eine aber sah die Gespenster nicht nachher, sondern vorher. Und so schlug er sinnlos hinein in seinen Alltag, zerschlug alles, was ihn daran gemahnte. Und hatte Frieden. Fort die Gespenster, fort die Angst. Der Schuldbeladene war wie in einen Stand von Unschuld zurückgekehrt.

Sind also alle unsere Begriffe von Schuld und Sühne, von Gewissenspein und Verfolgtsein durch die Tat nur Aufgeschwatztes, Anerzogenes, Angelerntes? Wer weiß es? Gewiß, du und ich, Freund, wir schlachten keine Menschen. Aber ist nicht das, was uns immer am meisten zwickt, Erinnerung an Nicht-Begangenes?

Was für ein gräßliches Inventar schleppst du nicht mit dir, Stunde für Stunde! Gedrosseltes Wollen, Gelüste, kolonnenweis niedergemähet, zerpreßt schon im Bruchteil der Sekunde, da es verhängnisvoll aufblitzte. Das Kaum-Gedachte, Niemals-Gewordene, das schleppst du mit dir herum. Strandgut der Piraterie des Gedankens: – Haß und Liebe, gemeuchelt mit der ganzen ungeheuren Energie der Feigheit, nie geküßte Küsse, schnell erstickte Brünste, Revolverkugeln im Lauf verblieben, Versuchungen, abgekillt im Dunkeln. Ah, wie das gärt und brodelt! Du hältst es sicher hinter moralischen Kombinationsschlössern, von denen du allein die Chiffre weißt. Da liegt es durcheinander, im Hirnschlamm verwesend. Aber die Miasmen dringen durch die feste Wand, schleichen sich parasitenhaft ins Blut, setzen sich um in die vielen kleinen, schmuddligen Friponnerien des Tags ...

Du kennst sie, die Gefahrzone in dir, umfriedest sie mit Idealismus, Ethos, Grundsätzen und all den andern niedlichen bunten Glitzersteinchen. Dem Schutze des Publikums empfohlen. Hunde sind an der Leine zu führen! Das ist das Museum deines Lebens, wie es sein könnte, das Schattenreich des Ungeschehenen, tausendmal ärger als die Hölle gläubiger Fabulisten.

 

Ein zierliches Lawendelgemüt aus dem Biedermeier hat ein Büchlein geschrieben »Zur Diätetik der Seele«. Seitdem sind wir erheblich fortgeschritten. Die Therapie für Seelenleiden wächst aus den Kinderschuhen, der irdene Topf der alten Vorurteile geht zu Scherben. Vielleicht werden bald findige amerikanische Nervenärzte bei depressiven Zuständen, verbunden mit schlechtem Appetit und Schlaflosigkeit, einen kleinen Totschlag verordnen, so wie früher Hühnerbrühe und Biomalz.

Du bist enttäuscht. Eine Illusion wurde leck und sinkt. Dieser Herr da, der mit unverkennbarem Ausdruck leiblicher und geistiger Saturiertheit durch die Leipziger Straße geht, hat eben seine Feinde massakriert und die Reste unter Petroleum gesetzt. Da geht er hin, sorglich die Gesetze achtend, kreuzt den Fahrdamm im vorgeschriebenen Winkel von 90 Grad.

Es sind keine Schatten um ihn, es ist kein Stöhnen in der Luft. Die Furien, beschauliche ältere Damen mit Embonpoint, sitzen an der Ecke bei Aschinger und essen Bockwurst mit Salat.

Das Tage-Buch, 25. Juli 1925


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