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November

Ricciotti Garibaldi, Träger eines erlauchten Namens, demokratischer Weltbürger und Biedermann von hochkarätigem Händedruck, Anti-Fascist aus eignem Entschluß, nicht durch Parteiband, ist in Frankreich als agent provocateur und Dirigent von Grenzzwischenfällen entlarvt worden. Auch bei dem katalonischen Unternehmen des Obersten Macia soll der feine Garibaldi-Enkel die Finger im Spiel gehabt haben.

Carbonari-Romantik, wie bei Stendhal und Balzac, doch lange verjährt und ranzig geworden. Diese italienischen und spanischen Emigranten sind großenteils, nicht minder als Wrangels weiße Offiziere, entwurzelt und zeitfremd. Sie glauben noch immer, es genüge die Fahne der Empörung an der Grenze, und Alles erhebt sich schon wider die verhaßte Tyrannei. Von den seelischen und ökonomischen Wandlungen in der verlorenen Heimat ahnen sie nichts. Zu Heimlichkeiten gezwungen, werden sie allzu leicht Opfer von Jobbern und Spionen, und was mit himmelstürmenden Plänen begann, endet im Sumpf. Fanatische Kindsköpfe zappeln an den Fäden der politischen Polizei, die nach Belieben Putsche arrangiert und abbläst, Revolver entsichert, aus der Hand schlägt oder losgehen läßt. Erinnerungen werden wach an Asew und die Ochrana, an »Bonnet rouge« und Almereyda und den jungen Philippe Daudet.

Auch der neue Mordanschlag auf Mussolini zeigt deutlich den Stempel des Polizeifabrikats. (Schon das Komplott Zaniboni-Capello wirkte unwahrscheinlich.) Der Fascismus brauchte ein Ausnahmegesetz, um die Restchen von offener Opposition auszutilgen und die wachsende geheime abzuschrecken. Mussolinis Diktatoren-Sendung, das Land aus den Wirren der Nachkriegszeit in ruhige Entwicklung zu führen, ist gescheitert. Sein geschulter Politikerverstand muß ihm sagen, daß auf die Dauer unmöglich ist, dreisteste Reaktion für soziale Revolution auszugeben. Sieht er noch einen Ausweg? Der Fascismus ist in sein anarchisches Stadium getreten; das Haupt, der umjubelte Duce selbst, ist sein Gefangener geworden. Der bankrotte Hasardeur flüchtet in einen roten Nebel von Terrorismus und außenpolitischen Konflikten. Heute wird Frankreich in Ventimiglia gereizt, morgen kann es am Brenner, an der Adria, sogar an der Schweizer Grenze losgehen oder ein neues Attentat die gewünschte Provokation liefern. Der desperate Mussolini ist eine europäische Gefahr.

 

Wenn Geßler sich schon nicht auf seine Offiziere verlassen kann: seine Richter lassen ihn nicht im Stich. Die in Landsberg haben, nach ganz anderm Auftakt, schließlich seinen Schulz freigegeben, alles für Geßler Peinliche von der Erörterung ausgeschlossen und ihm selbst die Zeugenschaft erspart. Pardon für Geßler in Landsberg. Pardon auch im Reichstag? Das bleibt abzuwarten.

Paul Löbe hat jetzt die Forderung erhoben, das Rekrutierungssystem der Reichswehr durch Schaffung einer Zentralstelle für Werbungen umzugestalten, was ein bedeutender Fortschritt gegenüber dem bisherigen Zustand wäre, der das Zusammenspielen von Offizieren und Wehrverbänden gradezu begünstigt und den Bestand der Republik in das diskretionäre Ermessen der Herren Kompagnieführer legt. Lobes Anregungen sind dankenswert, aber noch unzureichend. Was machen schon die paar Rekruten aus, die in Zukunft vielleicht die Gewerkschaften stellen werden, wenn sich im Offiziercorps nichts ändert, wenn das Ministerium nicht ausgefegt, wenn der Etat kritiklos wie bisher genehmigt wird! Arme Konzessions-Republikaner in dieser Reichswehr. Eine beträchtliche Zunahme der Soldaten-Selbstmorde: das wäre der einzige Effekt. Radikale Wandlung der Personalpolitik unter schärfster parlamentarischer Kontrolle tut not. Und vor Allem: es gibt kein neues System, solange Geßler bleibt.

Dennoch ist gut, daß der erste wichtige Reformversuch an der Reichswehr von Paul Löbes unkompromittierter Reputation gestützt wird. So, wie Herriot gegen den alten Kampfgenossen Caillaux aufstand, als er durch ihn die Demokratie bedroht glaubte, so müßte jetzt der sozialistische Präsident des Reichstags den Mann richten, der mit glatter Gleisnermiene das Parlament jahrelang genasgeführt hat, der ein Hemmschuh war jeder freiheitlichen Entwicklung im Innern wie jeder verständigungsbereiten Außenpolitik, und dessen Name für immer unlösbar verknüpft sein wird mit der tiefsten Erniedrigung der deutschen Republik. Mit der ganzen Autorität seines makellosen Rufes muß Löbe dafür sorgen, daß Das, was er angeregt hat, nicht wieder in jener fraktionellen Kleinherzigkeit und Rechnungsträgerei versande, die Geßler stets gerettet hat. Ihre historische Stunde, Paul Löbe, ist da!

 

Es wird schon ein gehöriger Stoß notwendig sein, um die lieben Republikaner in Bewegung zu bringen. Der ›Vorwärts‹, zum Beispiel, bewahrt jene schöne Ruhe, die seine Partei die Hohenzollern-Mästung widerspruchslos ertragen ließ, und die Demokraten drehen sich verlegen hin und her und schimpfen auf Klapproth. Einzig Carl Misch in der ›Vossischen Zeitung‹ tritt energisch für die Rehabilitation der »Landesverräter«, insbesondere Erich Zeigners, ein und rettet damit die Ehre der demokratischen Presse. Er betont mit wünschenswerter Schärfe, daß Sachsen die Cuno-Regierung wieder und wieder ermahnt habe, den Trennungsstrich gegenüber den rechtsradikalen Verbänden zu ziehen. Doch wenn Misch dann meint, Zeigner würde richtiger getan haben, sein Verhalten dem der preußischen Regierung anzupassen, so müssen wir aus unsrer Kenntnis der Dinge ergänzen, daß von Zeigner ein solcher Verständigungsversuch unternommen worden ist, aber keine Gegenliebe gefunden hat. Wir wissen, wie konsterniert Zeigner am Abend des Cuno-Sturzes von einer Unterredung mit Severing gekommen ist: er hatte mit reichem Material dem preußischen Innenminister seine Sorgen über die Lage mitgeteilt und war höflich abkomplimentiert worden. Tatsache ist leider, daß Braun und Severing, teils als Exponenten der sozialdemokratischen Parteipolitik, teils als Minister der Großen Koalition, gar kein Interesse an einer Verständigung mit den sächsischen Revoluzzern hatten. Weil in der Linden-Straße auch für Sachsen die Große Koalition gewünscht wurde, begegnete Zeigners Auftreten von Anfang an dem harten Veto der Zentrale. Enttäuscht und verlassen trug er den Kampf in die Berliner Parteiorganisation und schloß endlich den verhängnisvollen Pakt mit den Kommunisten. Misch hat wohl recht, wenn er darlegt, die geschickte Taktik der preußischen Regierung habe den Rechtsputsch auf einen kleinen Platz im Osten lokalisiert und damit totgemacht; aber richtig ist auch, daß die offizielle sozialdemokratische Politik die Roten in Sachsen mindestens ebenso gehaßt hat wie die Schwarzen in Küstrin. Diese Taktik hat den Putsch zwar isoliert vertrocknen lassen, aber den sächsischen Radikalismus in gleicher Weise behandelt und ganz konsequent zum militärischen Zuge nach Dresden geführt. Stresemann konnte den Streich wagen, weil er wußte, daß die Sozialdemokratie neutral bleiben würde.

 

Arnold Rechberg hat in dem von Millerand kontrollierten ›Avenir‹ ein deutsch-französisches Militärbündnis vorgeschlagen, und selbstverständlich sekundiert Hochmeister Marauhn in seinem Vereinsblatt. Nach Rechbergs Projekt soll ein aus deutschen und französischen Generalen zusammengesetzter Generalstab geschaffen werden, der sowohl der deutschen wie der französischen Armee übergeordnet sein soll, das Besichtigungsrecht hat über die Truppen beider Länder und die gemeinsamen Verteidigungspläne ausarbeitet. Das Stärkeverhältnis soll auf fünf zu drei festgelegt werden, wobei Frankreich der Vorrang eingeräumt wird. Herr Rechberg, bei dem Vernunft sich immer seltsam mit Wunderlichkeit mischt, mag sich einbilden, daß diese Militär-Allianz den europäischen Frieden auf Granitquadern stelle – uns scheint sie nur den Krieg mit Rußland unvermeidlich zu machen. Rechbergs Irrtum: den deutsch-französischen Ausgleich auf jene Machtpolitik zu bauen, die durch den Ausgleich grade überwunden werden soll. Das Ziel darf nicht sein: einen gemeinsamen Generalstab zu bilden, sondern: gemeinsam alle Stäbe zum Teufel zu schicken. Rechberg beklagt sich, daß Westarp diese seine Lieblingsidee einen Witz genannt habe. Nur nicht verzagen! Wenn die Westarps einmal die Regierung haben sollten, werden sie das gar nicht mehr so komisch finden.

 

Die Wahlen in Sachsen haben keine Klärung gebracht. Die Alt-Sozialisten sind, mit Recht, zerschlagen worden; die Demokraten mußten das letzte Fett lassen; die Links-Sozialisten haben sich, ohne vollen Erfolg, ehrenvoll behauptet. Sie hatten Alles gegen sich, und die Kommunisten schlachteten in skrupellosester Weise die Haltung der preußischen Genossen zur Hohenzollern-Spende gegen sie aus. Wer ein Schrumpfen der Kommunisten erwartet hatte, wurde enttäuscht. Man muß sich überhaupt gewöhnen, den Einfluß des innern Randais der Kommunistenpartei auf ihre Wähler gering einzuschätzen: die stimmen so, weil sie mit der Sozialdemokratie unzufrieden sind, und kümmern sich gar nicht um Sinowjew oder Stalin.

Was nun? Das Bündnis zwischen Links-Sozialisten und Kommunisten scheitert an beiderseitiger Abneigung. Die Große Koalition ist für die Sozialdemokratie undenkbar und würde ihrer Haltung seit 1923 den Sinn nehmen. Der Parteivorstand drückt zwar; Pessimisten flüstern, es seien bereits Bestrebungen im Gange, die Partei abermals zu spalten und einen bestimmten Flügel zu den Alt-Sozialisten abzukommandieren, um auf diesem Wege die ersehnte Koalition zu machen. Wir vermögen daran noch nicht zu glauben, obgleich nicht unbekannt ist, daß gewisse Herren in und um die Zentrale in den Buck-Genossen noch immer »die Eigentlichen« sehen. Die größere Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß zunächst mit dem Provisorium eines Beamtenkabinetts gerechnet werden muß. Das wäre selbstverständlich keine Lösung und könnte nicht von Dauer sein. Die sächsische Beamtenschaft ist stockreaktionär, die Demokraten nicht ausgenommen; die Wahlen aber bedeuten trotz alledem einen heftigen Ruck nach Links.

Etwas ist für diese Wahlen symptomatisch: das Emporschnellen der Wirtschaftspartei von Null auf Zehn. Diese Partei, die keine ist, jeweils improvisiert von mandatlüsternen Hausagrariern, wird damit ein unbestreitbarer Machtfaktor. Das ist ein Debakel ohnegleichen für alle andern Parteien und wälzt die Müllabfuhr-Probleme der Bezirksämter in die Parlamente. Nicht unschuldig daran ist allerdings die Sozialdemokratie, die niemals den Ton für die Kleinsten der kleinen Bürger gefunden hat. Die gehören in Frankreich und England zum eisernen Bestand der Linken. In Deutschland haben die Sozialisten dagegen den armseligsten Flickschuster immer wie einen fluchwürdigen kapitalistischen Exploiteur behandelt, und noch heute, wo sie sich mit der Industrie lange vertragen und wieder verzankt haben und Silverbergs Silberklängen andächtig lauschen, haben sie dem Kleinbürgertum gegenüber noch nicht den hochnäsigen marxistischen Jargon verloren. So machen auch in Sachsen die guten Leute, getreu dem geistigen Vermächtnis ihres grade jetzt vor acht Jahren entwichenen Großmoguls, ihren Dreck alleene. Und es ist auch danach.

Halt, ist es wirklich erst acht Jahre her, daß aus dem Novembergrau rote Fahnentücher leuchteten? Was für Tage voll Verheißungen und Seelenaufruhr waren das! Kaiserliche Generale trugen die Farbe der Revolution, hartgesottene Industrie-Syndici fraternisierten mit Kohlenschippern, die ›Kreuz-Zeitung‹ holte ihr Signum vom Titelkopf, die Fürsten drückten sich mit unbegründeter Hoffnungslosigkeit, und die Prinzessinnen stürmten en masse zum Scheidungsrichter, um die neue Freiheit zu eröffnen. Das ist so fern, als wäre es nie gewesen. Hoffentlich macht man nun wenigstens zum zehnten Jahrestag die große Republik-Ausstellung. Das wird ein Gedränge geben am Kaiserdamm.

Die Weltbühne, 9. November 1926


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