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Wenn Einer eine Reise tut, dann haben andere was zu erzählen. Sven Hedin unternahm jahrelang kühne und mühevolle Expeditionen durch Innerasien und kam an Stätten, die keines Europäers Fuß jemals betreten. Ein Forscher, voll von Skrupeln, ein Diener der Wissenschaft, der sich selbst vielleicht kaum jemals eingestanden, daß auch ihn letzten Endes nur die Freude am absonderlichen Erlebnis zum Touristen in der Wüste, zum Besucher verschlossener Städte gemacht. Der Doktor Ossendowski, ein ungleich beschwingterer Reporter, ist sicherlich auch in Asien gewesen, aber ohne Karten und Meßinstrumente. Ein russischer Flüchtling, ein Unbehauster wie Kain, fegte er im Sausetempo durch Steppen und Dschungeln und fremde Kulturen. Viel später und bei drückendem Geldmangel schrieb er das auf und noch einiges dazu. Denn in der Erinnerung nimmt alles phantastische Formen an. Asien schreckte als riesenhaftes Phantom durch seine Träume, ein Ungeheuer, ein Drachenmaul mit furchtbar malmenden Zähnen, und diese Träume jagten ihn durch den hellen Tag, bis schließlich daraus ein Buch wurde voll Wahrheit und Dichtung, also: Dichtung.
Nun meldet sich der Schwede als kontrollierende Instanz, und seine Kontrolle ist für Ossendowski schlimm genug ausgefallen. Zum Überfluß weist auch noch ein Philologe nach, daß eine Episode Jack London entnommen, und ein paar Geographen sind empört, daß jemand ihre Domäne Zentralasien in Farben schildert, die sie nie geahnt, und Abenteuer dort erlebt, wo sie Dissertationen über die niedere Fauna konzipiert. Als vor vielen Jahren der tüchtige Doktor Cook die ganze Welt mit seiner Nordpolfahrt alarmierte, da erklärte auf einem Kongreß eine geographische Kapazität, daß es eigentlich ganz gleichgültig sei, ob Einer am Nordpol gewesen oder nicht. Die Wissenschaft sei auch so völlig im Bilde. Na also. Dem armen Ossendowski aber wird ein Strick daraus gedreht, daß er Landschaften schildert, die er nie gesehen und daß er diese Schilderungen wissenschaftlich nennt.
Man sollte den Mann nicht mit Ziffern und Fragen nach Beweismaterial ängstigen. Seit wann ist denn der Begriff Wissenschaft nicht dem Wechsel unterworfen? Der ehrwürdige Haeckel, vor fünfzehn Jahren noch als Ausbund eines entgeisteten, imaginationslosen Naturalismus verschrien, erscheint heute als ein gütiger, milder Märchenerzähler. Die Wissenschaft von gestern wird immer der Aberglaube von heute, der Scharlatan dieser Jahre die akademische, wissenschaftlich akkreditierte Größe des nächsten Jahrzehntes. Einstein hat den Kopernikus in der Schulklasse der Unsterblichen um einige Bänke nach hinten gesetzt. Wer wird einmal Einstein plazieren?
Und nun gar die ersten Vorposten in fremde Zonen. Herodot und Marco Polo, von ihren Zeitgenossen bestaunt, wirken auf uns als liebenswürdige Renommisten, die mehr die Ohren als die Augen gebrauchten und begierig alle Wundergeschichten aufgefangen und weitererzählt haben. Auf Grund unserer ungleich höheren Kenntnisse fällt es uns so unendlich leicht, ihnen nachzuweisen, daß sie von Menschen und Dingen reden, die sie nie erblickt. Aber mit gleichem Recht wird eine spätere Generation von Sven Hedin an Hand seiner Kriegsbroschüren vielleicht behaupten und beweisen können, daß er niemals in Europa gewesen.
Ossendowski ist kein Forscher, erst recht kein zuverlässiger Berichterstatter und Mehrer von Tatsachenbeständen. Er gehört jener Klasse von Reisenden an, die dafür sorgen, daß das Reservoir an Fabeln und bizarren Begebenheiten sich nicht erschöpft. Das macht ihn den Gelehrten so suspekt und dem schlichten Leser, der unterhalten sein will und nicht mehr, so preisenswert. Seine Leser wird das Anathema der Professoren nicht abschrecken, denn sie wollen nicht Wirklichkeit, sondern Vision. Und Ossendowski gehört zu den romantischen Fabulisten, zur Rasse des Odysseus, des göttlichen Schwindlers, von dessen Abenteuern wahrscheinlich nur das Intermezzo mit der Circe nach Glaubwürdigkeit riecht. Und doch lauschten die guten Phäaken mit Wollust den faustdicken Aufschneidereien des Vielgewandten; sie fühlten ihr egal zufriedenes Phäakendasein angenehm unterbrochen von diesen Erzählungen über Begegnungen mit Göttern, Elementargeistern, Ungeheuern und Tiermenschen, ja, Nausikaa, die Liebliche, hat sicherlich der Gedanke an den zottigen Gorilla Polyphem in ihren Träumen erhitzt.
Wir sind keine Phäaken, aber wir geben gern die dumme, dürre Wahrheit, die auf die letzten Fragen doch nur mit einem gouvernantenhaften Achselzucken reagiert, für ein Stückchen pittoresker Lüge. Ossendowski hat eine neue Fabelquelle gefunden. Er hat das märchenarm gewordene Arabien der Kalifen entthront und den fernen Osten an dessen Stelle gerückt. Scheherezade und ihr geduldiger Tyrann sind tot. Am Rande des Stillen Ozeans, dort, wo Weiße und Gelbe um kommende Weltherrschaften würfeln, in diesen geheimnisumzirkten Gebieten wachsen die Märchen unserer Zeit. Wäre er nie in Asien gewesen, hätte er seine Bücher in einem New Yorker Hotelzimmer ersonnen, seine Entdeckung hätte es nicht schmälern können. Wenn aber die neue Völkerwanderung im Osten einmal zur Ruhe gekommen, wenn der Sinn dieser Mysterien enträtselt, wenn diese Abenteuer ihr Aktuelles und Aufreizendes verloren haben und nichts zurückbleibt als eine seltsam schillernde Schale, wer weiß, ob nicht dann, am Abend unseres dramatischen Jahrhunderts, Ossendowskis Geschichten von weißen Generälen und roten Bolschewisten, von lebenden Buddhas und gelben und braunen Teufeln zum beliebtesten Kinderbuch geworden sind. Wie heute die bitterbösen Pasquille von Cervantes und Swift, die ja auch nicht gerade zur Verherrlichung der Menschheit und zur Unterstützung braver Pädagogen gedacht waren.
Das Tage-Buch, 24. Januar 1925