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Junius

Herr v. Loebell hat der Sozialdemokratie ein paar Unzen Pfeffer unters Sitzfleisch gestreut und damit die holde Schläferin endlich in Bewegung gebracht. Dank ihm. Nur hat sich der rührige Greis diesmal verkalkuliert, indem er, beeinflußt durch selige Erinnerungen, die Segenskraft des Namens Hindenburg allzu sehr überschätzte. Ein Jahr Präsidentschaft hält in Deutschland auch der solideste Nimbus nicht durch. So lohnte den Loebell statt propagandistischen Effektes ein ungeheurer Skandal, der selbst das von Herrn v. Guérard geführte Zentrum jäh aufgerüttelt hat. Wir möchten hier dem volkstümlichen Irrtum entgegentreten, Loebells kleines Unternehmen als Intrige zu bezeichnen. Dieses Fremdwort weckt unwillkürlich Vorstellungen von Escorial und Trianon, Hochschulen verfeinerter Ränkekunst. Was jedoch der Häuptling des Bürgerrates gedreht hat, war hausgebackener deutscher Schwindel, frei von Laune und Talent welscher Tücke, entwaffnend in seiner blauäugigen Ahnungslosigkeit. Wir verfügen nicht über den psychologischen Scharfblick gewisser republikanischer Blätter, die profunde Untersuchungen anstellen über Herrn v. Hindenburgs Seelenleben, über die Überwindung, die es ihn gekostet haben soll, den alten Prätorianer-Chef aus dem Wahlkampf ritterlich zu decken. Die Frage scheint uns auch keine der Seelenkunde, sondern eine des Prinzips aller und jeder demokratischen Konstitution zu sein, abgewandelt allerdings auf den Sonderfall Hindenburg. Dieser Präsident ist weder ein Autokrat, wie es Herr Millerand war, noch ein glatter, vielerfahrener Lächler wie Herr Doumergue, noch ein physiognomieloser Amtsträger wie Herr Hainisch in Österreich. Er ist überhaupt nicht als Politiker gewählt worden, kaum als Persönlichkeit, sondern einfach als Denkmal einer angeblich ruhmvollen Zeit. Niemals, seit Saul auszog, um die Eselin zu suchen und ein Königreich zu finden, ging jemand so unvorbereitet – aber auch so unprätentiös – in ein Regentenamt. Nur wollten es seine Manager, daß dieser Mann emporgetragen wurde durch einen Wahlkampf, der seinesgleichen nicht hatte an Demagogie und Mißachtung aller Anstandsformen. So wurde der politikfremde Hindenburg Präsident als Garant der Rechten und kann nur Präsident bleiben, so lange die Strömung noch flutet, die ihn hochwarf, mag er schon auf fünf Jahre gewählt sein. Von vornherein war seine Amtszeit dadurch kürzer befristet; auch ohne den Loebell-Skandal neigt sie sich ihrem Ende zu: denn die Massen sind heute radikalisiert, und die aus der nächsten Wahl hervorgehende Regierung wird dem Rechnung tragen müssen. Die dann ans Ruder kommen, werden zwar noch immer keine großen Jakobiner sein, aber sie werden doch dem Präsidenten tagtäglich zumuten müssen, was er nun einmal nicht schlucken kann. Daß er sich bisher der Verfassung beugte, entspricht seiner an Eingliederung gewohnten militärischen Art, daß er über die Stränge schlägt, wo ihm etwas so gründlich gegen sein Traditionsgefühl geht wie die Fürstenenteignung, das zeugt für seinen Charakter. (Das zeugt leider auch gegen den republikanischen Heiligenschein seines Amtsvorgängers, der bei der Zustimmung zum Ruhrkrieg und zum Marsch nach Sachsen den politischen Charakter aufgab zu Gunsten dessen, was er für Zweckmäßigkeit hielt.) Es ist deshalb auch herzlich müßig, zu klagen, der Streich des Loebell müsse zur Präsidentenkrise führen. Seit Wochen ist kein Geheimnis mehr, daß Herr v. Hindenburg bei einem Siege des Volksentscheids zurücktreten würde. Das verschweigt die republikanische Presse sorgfältig, anstatt zu applaudieren: »Bravo, Herr v. Hindenburg! Sie handeln wie ein Mann von Charakter!« Die Krise, die durch den Volksentscheid nur beschleunigt wird, war von Anfang an da, denn der konservative Monarchist als Präsident der demokratischen Republik ist nun einmal eine blanke Unmöglichkeit. Bis jedoch der Irrtum einer durch Mobilisierung aller Dummen erwirkten Wahl korrigiert werden kann, ist es die Pflicht der Regierung, den Mann, der nicht Politiker sein kann und will, so zu beraten und zu lenken, daß er weder eigenmächtige Handlungen begeht, noch sich kompromittiert, noch in einen Kampf gezerrt wird, dessen Sinn er gar nicht begreift. Der peinlich konstitutionelle Hindenburg von 1925, dem das voreilige Reichsbanner gleich Fackelzüge veranstaltete, das war der unbestreitbare Triumph des Kanzlers Luther. Der unberatene, mit nervösen, ungeübten Händen persönliche Politik machende Hindenburg, das ist die unerhörte Blamage des Republikaners Marx. Nicht dieser Präsident, der Kanzler ist zur Rechenschaft zu ziehen. Die Regierung Marx und Külz hat sich in ihrer Mischung von Hilflosigkeit und Hinterhältigkeit als Michaelis-Regierung von reinstem Wasser gekennzeichnet. Sie erweckt ungehemmte Sehnsucht nach den Zeiten Luthers und Schieies. Niemals können offene Reaktionäre der Republik so schaden, wie Republikaner, die vor der Republik Angst haben.

 

England hat eine gereizte Beschwerde nach Moskau gerichtet wegen der russischen Subsidien für streikende Bergarbeiter. Schon in früheren Jahren waren solche Unterstützungen für Streikende in andern Ländern oft Gegenstand erregter Auseinandersetzungen. Die Sozialdemokraten haben immer darauf verwiesen, daß sie international organisiert und die jenseits der Grenze ihre Genossen seien; deshalb sei es auch nicht berechtigt, von »ausländischen Geldern« zu reden. Diesmal allerdings steckt der russische Staat dahinter; das macht die Angelegenheit für England heikel und reizt die Empfindlichkeit. Die Moskauer verstehen es ja meisterlich, in den nicht grade befreundeten Ländern kleine soziale Gefahrzonen zu unterhalten, die für die Kapitalisten weit unangenehmer sind als die etwas zu allgemeine Drohung mit der Weltrevolution. Übrigens ist die hochmoralische Entrüstung über die russischen Umtriebe etwas komisch. Weiß man denn in London nicht mehr, daß die Miljukow-Revolution von 1917 unter dem besonderen Protektorat des englischen Botschafters Buchanan stattgefunden hat? Damals war der Zar zum Separatfrieden geneigt, und England setzte ihm dafür den roten Hahn aufs Dach. Die Russen revanchieren sich nur.

 

Die neue deutsch-russische Freundschaft hat bei der ersten Probe versagt. Während im Reichstag Alles von Reventlow bis Höllein den Russenvertrag feiert, kündigt Herr Rykoff die Lieferungsverträge, weil er genug hat von der Raffigkeit der deutschen Banken. Die Russen sind bitter enttäuscht. Sie haben bisher, außer mit ihren Parteigenossen, immer nur mit dem amtlichen Deutschland zu tun gehabt: mit Stresemanns Diplomaten und Seeckts Offizieren. Hier sind sie einmal an das andere Deutschland geraten, hier haben sie die harte deutsche Wirklichkeit kennen gelernt, die Freundschaft sofort in Prozente umrechnet. Das strittige halbe Prozent wird den Russen den Weg nach Paris sehr erleichtern ...

 

Die französische Politik zittert in nervöser Unruhe. Diese Nervosität ist berechtigt. Es handelt sich diesmal nicht um irgend eine »Affäre«, sondern ums Geld. Die Position der Regierung ist sehr ungünstig: während sie über Sanierungsplänen schwitzt, fällt der Franc weiter, und Finanzminister Péret schlägt sich ehrlich und vergeblich mit den Banken herum. Die Hochfinanz wirkt auf orthodox-kapitalistische, massenfeindliche Lösungen hin; die Linke deklamiert und protestiert, doch ihre Pläne bleiben nebelhaft. Unglücksraben krächzen das Bänkellied vom Ende der Demokratie, und wie ein Vorschuß auf die Diktatur spuken Herrn Taittingers Blauhemden über die Boulevards. Briand jongliert zwischen Kartell und Nationalem Block, halb verlegen, halb berechnend. Einer steht wartend hinter der Tür: Raymond Poincaré. Das ist ein Name von gehässigem Klang, aber die Freunde des Mannes – und nicht nur die Freunde! – wissen Wunder zu erzählen von seiner Arbeitskraft und seinem unbeirrbaren Zielwillen. Selbstverständlich dürfte eine Wiederkunft Poincarés in Deutschland furchtbaren Radau hervorrufen, und auch die sonst vernünftigsten demokratischen Blätter würden wohl der seit dem Sieg des Kartells sichtbarlich fortschreitenden Verständigungspolitik Totenmessen zelebrieren. Besteht wirklich Grund zur Annahme, Poincaré könnte Das, was in zwei Jahren geschaffen wurde, einfach für nichtig erklären und wieder Außenpolitik in Geist und Sprache von 1923 machen? Die deutsche Presse hat immer den Fehler begangen, ihn entweder zur blutigen Kriegsfurie oder zum komischen Tartarin zu verzerren. Der wirkliche Poincaré ist weder ein gallsüchtiger Ränkeschmied, noch ein nationalistisch erhitzter, philiströser Gernegroß. Auch seine Gegner von der französischen Linken behandeln ihn mit Respekt. Für die war die Gipfelung des Maisieges von 1924 nicht sein Sturz, sondern die Verjagung Millerands aus dem Elysée. Wer ein wenig mit dem verwickelten französischen Parteileben vertraut ist, weiß, daß Poincaré sich nicht auf die Reaktion, sondern auf die Mittelgruppen stützt. (Sein gehässigster Gegner ist André Tardieu, der rechts von ihm steht.) Grade die Presse der Herren Marx und Külz sollte für einen ausgesprochenen Mann der Mitte doch einiges Verständnis aufbringen. Poincaré nimmt unter den Prominenten der französischen Politik eine besondere Stellung ein, die er nicht einer fortreißenden Beredsamkeit oder, wie Briand, einer Diplomatie voll verschlagener Konzilianz verdankt. Seine Stärke liegt vielmehr in einer gewissen strukturalen Festigkeit, eine geschätzte Seltenheit neben rhetorischen Temperamenten und zappeligen Nervenmenschen. Als Valutaretter könnte er nützlich wirken; man darf ihm auch die Unerschrockenheit zutrauen, seinen dicken Kopf den Herrschaftsgelüsten der Banken entgegenzusetzen. Wahrscheinlich würde er zunächst danach trachten, die finanzielle Aufgabe von den Schlinggewächsen des Parteigeistes zu befreien und auf einen rein wirtschaftlichen Generalnenner zu bringen, was keinem seiner Vorgänger bisher gelungen ist. Bleibt nur die besorgte Frage nach seiner Außenpolitik. Wird er die Ergebnisse von Locarno lieblos auf ein totes Gleis schieben oder gar zerschlagen? Wir glauben, daß mindestens die Hälfte des Problems nicht mehr bei ihm, sondern in der Wilhelmstraße liegt.

 

Die Gerüchte wollen nicht verstummen, die Regierung beabsichtige als Nachfolger des verstorbenen Dr. Pfeiffer den früheren bayrischen Ministerpräsidenten Grafen Lerchenfeld zum Gesandten in Wien zu ernennen. Herr Graf Lerchenfeld ist grade für dieses Amt denkbar ungeeignet. Die österreichischen Sozialisten und Demokraten sehen in ihm den Verbindungsmann zwischen der bayrischen Reaktion und den Wiener Christlich-Sozialen, zwischen Münchener Legitimisten und Partikularisten und Wiener Anschlußgegnern. In Berlin zaudert man. Da aber die Forderung von der Bayrischen Volkspartei ausgeht, also das Kabinett Held dahintersteht, also bayrische Belange auf dem Spiele stehen, so wird Berlin, daran ist kein Zweifel, kapitulieren. Abgesehen von den aktuellen politischen Bedenken, sind auch die Erinnerungen an Lerchenfelds Ministerpräsidentschaft nicht grade glänzend. Aber wenn ein deutscher Politiker gründlich abgewirtschaftet hat, schickt man ihn eben zur Repräsentation ins Ausland. Das erweckt dann einen Eindruck von deutscher Politik, der im Allgemeinen ... durchaus nicht ganz unrichtig ist.

 

Am 15. Juni 1888 wurde Wilhelm II. deutscher Kaiser. Am 20. Juni 1926 wird das deutsche Volk wenigstens einen geringen Teil der 1918 versäumten Abrechnung nachzuholen haben. Da erscheint grade jetzt eine einst berühmte, dann fast legendär gewordene Schrift von 1894 in neuer Auflage: Ludwig Quiddes »Caligula«. Da hat Einer den faulen Zauber der wilhelminischen Glorie schon nach dem ersten Jahrfünft durchschaut. Es liest sich amüsant und auch ein wenig erschütternd, daß ein Mann, der im kaiserlichen Deutschland die Wahrheit künden wollte, ins Schalkskleid steigen mußte, ebenso wie die weisen Narren, die Shakespeare Despoten Unannehmlichkeiten sagen. Wie scharmant aber ist Quiddes Vermummung! Wie lustig, daß es eigentlich gar keine Vermummung ist, sondern der Autor nur von seinem Historikerberuf Gebrauch macht und mit allem professionellen Drum und Dran, wie Fußnoten und Quellennachweisen, über einen vermoderten Cäsaren eine hochgelahrte Abhandlung schreibt, die ein Stück Gegenwart unfreundlich spiegelt. Schlimm für Wilhelm, daß in Caligulas Porträt Alle mühelos sein erhabenes Herrscherantlitz erkannten. Schlimm aber auch für das deutsche Volk, das für einen Scherz nahm, was bittere Wahrheit war, Warnung und Prophetie. Ludwig Quidde hat in einem tapfern, arbeitsvollen Leben bestätigt, daß es ihm um mehr zu tun war als um eine kecke Herausforderung. Lange zweifelte er, ob das Werkchen Ausgrabung verdiene. Heute, wo es wieder da liegt, weiß man, daß seine Aktualität nicht allein von Wilhelms Verrücktheiten lebt. Es gehört in die erste Reihe politischer Streitliteratur: in die Nachbarschaft jener klassischen englischen Junius-Briefe, die ein tyrannisches und korruptes System in unvergänglichen Linien festgehalten haben. Nicht das war Quiddes echte politische Psychologenleistung, daß er allerhand mögliche Gefahren angesagt, sondern daß er einen seelischen Zustand entlarvt hat:

»Der spezifische Cäsarenwahnsinn ist das Produkt von Zuständen, die nur gedeihen können bei der moralischen Degeneration monarchisch gesinnter Völker oder doch der höher stehenden Klassen, aus denen sich die nähere Umgebung der Herrscher zusammensetzt.«

Mit dieser moralischen Degeneration haben wir noch heute zu tun. Ihr, nicht den Tresors der Fürsten, gilt die Junischlacht von 1926. Caligula ist entwichen. Seine Prätorianer, Favoriten und Affen sind geblieben.

Die Weltbühne, 15. Juni 1926


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