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Die Arbeitslosen

Es ist schön und wirksam, in einer Zeitungsüberschrift feststellen zu dürfen, daß es in Berlin wieder dreitausend Arbeitslose weniger gibt. Und es ist noch schöner, wenn ein Herr Geheimrat dem informationsbedürftigen Journalisten sagen kann, daß es von Tag zu Tag besser geht. Denn Optimismus ist seit dem Abgang des grauen Bilanzknechts Schlieben wieder ministerielle Parole. Wie in des seligen Hermes Tagen. Aber wenn wir auch nicht mehr wie damals auf dem Vulkan tanzen, so ist doch das neue Parkett unter unsern Füßen noch zu dünn, um einen solchen Polterabend von Zukunftsseligkeit zu ertragen. Gewiß hat die Arbeitslosigkeit im letzten Semester beträchtlich abgenommen – am 15. Oktober zählte man fast 700 000 Unterstützungsempfänger weniger als am 15. Februar –: aber es sind noch immer zwischen anderthalb und zwei Millionen Menschen, die jetzt, an der Schwelle des Winters, notgedrungen feiern. Wird selbst diese graduelle Besserung anhalten? Das parlamentarische Kompromiß in der Erwerbslosenfrage, »wegen der herrschenden Krise« die laufenden Unterstützungen bis zum 31. März zu verlängern, nannte Richard Lewinsohn in der Vossischen Zeitung kürzlich nicht ohne Ironie eine der Krise gesetzte Bewährungsfrist: »Hat sie sich bis zum 1. April nächsten Jahres nicht gebessert, wird sie zur Dauerkrise erklärt.« Und Julius Hirsch nennt im Berliner Tageblatt die Besserung eine offensichtliche Scheinblüte; er weist auf den für die deutsche Wirtschaft zum Bombengeschäft gewordenen englischen Kohlenkampf hin und spricht in diesem Zusammenhang von einem »Transfer der Arbeitslosigkeit« von England nach Deutschland. Geht der Kohlenkampf zu Ende, so folgert Hirsch, »dann beginnt trotz der weit überschätzten, langfristigen deutschen Lieferungsverträge fraglos der Rücktransfer der Arbeitslosigkeit. Er wird vielleicht durch Wirkungen der Jahreszeit (Landwirtschaft, Baugewerbe) noch verschärft. Mit wachsender Arbeitslosigkeit gehen wir dann durch den Winter«. Sieht man in den Amtsstuben die gleiche Gefahr wie diese nüchternen Beurteiler, und wie rüstet man sich? Was für Pläne liegen für Arbeitsbeschaffung vor? Wir von außen sehen nur amtlichen Optimismus und diesen bestätigende Zahlen, die uns Statistik präsentiert, die stets gefällige Dame. Selbstverständlich könnte der Staat, der nicht nur den Fürsten Millionen nachwirft, sondern auch in diesen Jahren hinreichend baufällig gewordene Gesellschaften von streng arischem Firmenschild mit Subventionen gefüttert hat, genügend Mittel aufbringen, um bei Kulturbauten und Siedlungsarbeiten Arbeitermassen produktiv und dem nationalen Wohlstand dienend zu beschäftigen. Und selbst wenn die Bureaukratie sich zu so weitgespannten Projekten nicht entschließen möchte: das heutige System der Arbeitslosen-Unterstützung ist derartig ungenügend, daß es den Einzelnen wohl vor dem Hungertode bewahrt, aber nur, um ihn dem viel ärgeren Hungerleben auszuliefern. Hier ist der Punkt, wo die sogenannte Stabilisierung ihren Widersinn enthüllt. Bleiben zwei Millionen Deutsche etwa erwerbslos bei Seite, so mag das nebelhafte Abstraktum »Wirtschaft« stabilisiert sein: das deutsche Volk ist es nicht, und das böse Wort Clemenceaus von den paar Millionen Deutschen zu viel wird nicht von den Franzosen, sondern von den allmächtigen Gebietern der Konjunktur in die Tat umgesetzt. Denn Vieles läßt sich beweisen, aber nicht, daß diese Konjunktur, von Menschen geschaffen und je nach Vorteil gewandelt, wie ein unabwendbares tellurisches Ereignis getragen werden soll. Es gibt heute eine Grenze, wo die »Wirtschaft« aufhört. Es gibt eine wirtschaftslose Zone, ohne Arbeit, ohne Produktion, mit bettelhaft geringem Konsum, wo das Wollen verwest, die Kräfte faulen und giftige Dünste ausströmen, die Region der Schaffenden gefährlich umzirkend. Ahnen die Lenker des Staates, wie hier aus dumpfer Hoffnungslosigkeit ein neuer Nihilismus entstehen muß, sein Gefüge bedrohend? In den Industrie-Syndikaten weiß man diese Hölle zu schätzen: mit dem bloßen Fingerzeig darauf zwingt man ja die Arbeiter und Angestellten unter die Fuchtel des Hungerlohns. Aber der Staat, der brave Ordnungsstaat, der grade Paragraphen schustert, um uns vor Schund und Schmutz zu bewahren, sollte vor der seelischen Verwüstung zittern, die durch dauernde Arbeitslosigkeit entsteht.

 

Dennoch muß man unserm Reichstag lassen: er hat die Arbeitslosenfrage mit gehörigem Ernst behandelt. Und wenn auch für die Erwerbslosen nichts dabei herausspringt, so bekommt die Regierung Marx doch ihre Große Koalition. Das ist sicherlich sehr wunderbar; aber wer die hurtig schnuppernden Rin-Tin-Tins der Mittelparteien auf ihren halsbrecherischen Wegen zur Bergung des geliebten Kindleins verfolgt hat, der ist über dies Ergebnis kaum erstaunt. Einmal mußte es doch so kommen. Mindestens bedeutet diese Entwicklung die Entlarvung eines faulen Spiels. Die Sozialdemokratie mußte mit Rücksicht auf ihre Arbeiterwähler gegen die unzulängliche Regierungsvorlage auftreten. Zu ihrem größten Entsetzen befand sie sich plötzlich in Gesellschaft aller übrigen Oppositionsparteien von Rechts bis Links, und die Regierung saß in der Minderheit. Große Verlegenheit: Niemand hatte gedacht, das Kabinett ernsthaft zu gefährden. Die Regierung Marx lebt ja von einem stillen Kontrakt mit der Opposition, und jede Abstimmung von Belang wird zu einer Porzellantour: Achtung, nicht stürzen! Nun hatten sich durch einen unglücklichen Zufall alle Opponenten zusammengefunden, und die Fuhre lag mitten auf der Straße. Erregtes Palaver. Schließlich Erklärung der Sozialdemokraten: es war eine Schamlosigkeit von den Deutschnationalen, mit uns zu stimmen; wir verbitten uns das und werden, um so unliebsame Zwischenfälle zu vermeiden, uns in Zukunft von Fall zu Fall mit der Regierung verständigen. Das ist sehr komisch: man verständigt sich mit der Regierung, die man bekämpft, aus Angst, ihr wehzutun. Und, was noch komischer ist: auch die Deutschnationalen hätten sich ihren Coup dreimal überlegt, wenn sie dies Ende vorausgesehen hätten. Aus der Verständigung von Fall zu Fall, das heißt: von Umfall zu Umfall, sollen nun Besprechungen zur Schaffung eines dauernden Bündnisses werden. Möglich, daß in der Sozialdemokratischen Partei noch Kräfte vorhanden sind, das zu verhindern: in der Fraktion sind die Widerspenstigen in der Minderzahl. Es ist seltsam, daß knapp vor dieser Wendung der besonnene Demokrat Erkelenz seinem Zweifel an Sinn und Nutzen der Großen Koalition beredten Ausdruck gegeben hatte. Diesen Demokraten hat man überhört, andre, die seit Jahr und Tag an die »Verantwortungsfreudigkeit« der sozialdemokratischen Führer appelliert haben, hat man leider besser verstanden. Zwar besteht die trübe Möglichkeit, daß die Sozialdemokratie sich wieder in langen, fruchtlosen Verhandlungen blamiert, daß im letzten Augenblick der rechte Flügel der Deutschen Volkspartei nicht mitmacht oder die Bayernpartei einen Korb gibt: – wer das für ausschlaggebend hält, unterschätzt die Verantwortungsfreude der sozialdemokratischen Führer. Was bedeutet schon die Billigung der Leistungen von Geßler und Külz? Neue Koalition, Eintritt in die Regierung – für die Hilferdinge ist das schließlich auch ein Arbeitslosenproblem.

 

Bei der großen Landtags-Prügelei um den Hohenzollern-Mammon ist auch der sozialdemokratische Abgeordnete Osterroth übel mitgenommen worden. Wie erinnerlich nahmen sich die beiden jungen Söhne Osterroths die dem Haushaltungsvorstand widerfahrene Kränkung so sehr zu Herzen, daß sie den einen Beleidiger, den Kommunisten Schultz, in der Abenddämmerung familientreu und risikolos verdroschen; eine Vendetta, die das helle Entzücken des in Ehrenfragen besonders sachkundigen ›Berliner Lokalanzeigers‹ gefunden hat. Das war der manuelle Teil des Rachewerks; den andern, sozusagen geistigen, nahm Osterroth Vater selbst auf sich, indem er als sozialpolitischer Direktor der ›Preußag‹ die Entlassung des zweiten Beleidigers, des Abgeordneten Abel, bewirkte, der dort als Bergmann beschäftigt war. Begründet wurde der Hinauswurf mit § 82 Ziffer 5 des Berggesetzes, dahin lautend, daß fristlose Entlassung erfolgen kann: »wenn ein tätlicher Angriff gegen den Brotherrn und seine Familie vorliegt«. Nach keiner Verfassung der Welt aber darf ein Abgeordneter wegen einer im Parlament und als Parlamentarier begangenen Handlung seiner beruflichen Stellung enthoben werden. Dies Prinzip durchbrochen zu haben, ist einem sozialpolitischen Direktor und sozialdemokratischen Brotherrn vorbehalten geblieben. Wenn schon die verletzte Brotherrlichkeit des Herrn Osterroth nach dem bedauerlichen Vorfall im Landtag eine Gemeinschaft mit dem Bergmann Abel bei der ›Preußag‹ nicht mehr zu ertragen vermochte, so ist doch anzunehmen, daß Herr Osterroth dem Entlassenen zu einer andern Anstellung oder – vertraute Klänge – wenigstens zu einer Abfindung verholfen hat. Wir fragen den Herrn sozialpolitischen Direktor, ob das geschehen ist, und bitten höflichst, die Antwort nicht durch seine Söhne besorgen zu lassen.

Die Weltbühne, 16. November 1926


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