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»Lebenslänglich« nach 6 Jahren Bewährung!
Die Tragödie des Landwehrmannes Heiderich

Berlin, 10. Mai.

Im Zuchthaus zu Münster sitzt seit Juli 1924 der Rheinschiffer Philipp Heiderich zur Verbüßung einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe. Das Urteil wurde gefällt 1917 vom Feldgericht der 25. Landwehrdivision. Der Fahrer Heiderich hatte im Affekt einen Vorgesetzten, einen Sergeanten von seiner Kolonne, niedergeschossen. Ein Jahr von seiner Strafe verbüßte er im Kriege, dann öffnete die Revolution sein Gefängnis. Der Soldat wird wieder Kleinschiffer wie früher. Sechs Jahre lang arbeitet er ruhig und unbescholten. Im Sommer 1924 muß er wegen eines Legitimationspapiers auf ein Polizeibureau. Die Obrigkeit hat ein gutes Gedächtnis: die Strafe ist nicht getilgt, der Mann wird von neuem verhaftet, ins Zuchthaus geschafft.

Heiderich stellt ein Begnadigungsgesuch. Es wird durch Erlaß des stellvertretenden Reichspräsidenten Dr. Simons vom 2. April 1925 abgelehnt.

Wenn es in Deutschland ein öffentliches Gewissen gäbe, wenn in ein paar hundert Köpfen nur unverbogenes, natürliches Rechtsempfinden noch lebte, Wille zur Entthronung einer Justiz, die in ihrem Allmachtsdünkel, in Willkür, Gleichgültigkeit und Buchstabenkultus immer mehr versinkt, dann hätten wir von morgen ab einen Fall Heiderich.

Wenn ...

 

Es gibt ein kleines vergessenes Soldatenstück von Theodor Körner, das früher gelegentlich zu Schüleraufführungen hervorgeholt wurde. Es heißt »Joseph Heyderich« und ist der Monolog eines sterbenden Kriegers. Aber wie idyllisch nimmt sich das Sterben dieses Kriegers von 1813 aus, neben dem Leben des Kriegers von 1914, wie absurd harmlos Joseph Heyderich, der im Rausche des Todes heroisch Deklamierende, neben Philipp Heiderich, der hinter Zuchthausgittern die Tage, die Stunden zählt und mit seinem schlichten Proletarierverstand über ein Recht nachgrübelt, dessen Waage nicht mehr stimmt.

Was war sein Verbrechen? Er hat nach der schönen vaterländischen Devise gehandelt, daß der Gott, der Eisen wachsen ließ, keine Knechte wollte. Er hat einen Vorgesetzten, der ihn duckte und quälte, im Streit übern Haufen geschossen. Eine typische Bluttat im Affekt. Ein Gepeinigter, ein zur Sinnlosigkeit Gemarterter vergißt sich. Wäre der Gegenstand in seiner Hand zufällig nicht ein Gewehr gewesen, sondern ein Blechnapf, er hätte dem kleinen Tyrannen mit dem Adlerknopf am Kragen den Napf an den Kopf geworfen. So war es Totschlag an einem Vorgesetzten. Das Feldgericht ist keine Anstalt zur Förderung der Humanität.

Trotzdem erkannte es nicht auf Todesstrafe. Es muß wichtige Gründe dazu gehabt haben.

Der Fahrer Heiderich war ein geduldiger, oder wie es in militärischer Terminologie heißt, pflichttreuer Soldat gewesen. Das Feldgericht konnte nicht umhin, vieles zu seinen Gunsten in Rechnung zu stellen. Er war kurz vorher auf Urlaub gewesen und als ein krankhaft überreizter Mann wiedergekommen. Er hatte zu Hause vorfinden müssen, was so vielen Urlaubern des herrlichen Jahres 1917 nicht erspart blieb. Die Kinder in Not, die Frau ... Von jetzt ab steht der unter die täglichen Todesgefahren der Front Zurückgekehrte unter der Nervenpeitsche. Eifersucht foltert ihn, dazu tägliche Sorgen um das Schicksal der Kinder. Und Dienst, Dienst, Dienst. Und immer der gleiche widerwärtige Fraß, das Menü von 1917, die Speisekarte der Zeit, als »der Sieg zum Greifen nahe war«: Rumfutsch, blauer Heinrich und Hindenburg-Torte. Nachts wird in Stellung gefahren, vormittags auf dem Strohlager herumgesielt, und nachmittags wieder Dienst, Dienst, Dienst. Alles das ballt sich schrecklich zusammen. Da, in einem bösen Augenblick ein Aufbäumen gegen die Peitsche, die immer über seinem Haupte hängt, draußen in der Stellung nächtlich, wo die Granaten krachend krepieren und die Minen mit dumpfem Getöse kollern und die Raketen und Lichtsignale farbig versprühen, tags beim Dienst im Stall und im Halbschlaf in den von Ungeziefer wimmelnden Decken ... Immer die Geißel der fieberhaft erregten Nerven.

Oh, das Feldgericht wird gewußt haben, warum es den Fahrer Heiderich nicht auf den Sandhaufen stellte ...

 

1918 wird er frei. Seine Vorgesetzten attestieren ihm, daß er »von der Straftat abgesehen, sich gut geführt habe«.

Er kehrt zu den Seinen zurück. Unter das Vergangene wird ein Strich gemacht. In Arbeiterfamilien lebt man nicht nach dem Pauk-Comment romantischer Ehrbegriffe. Der Soldat wird wieder Kahnschiffer am Rhein wie früher. Ein ruhiger, fleißiger, nüchterner Arbeiter, auch in den turbulenten Zeiten der Revolution, der nicht der Verführung der Stunde erliegt, einmal zu feiern. Einer der so vielen Namenlosen, die still und selbstverständlich ihre Muskeln einsetzen für das, was die pompöse amtliche Bezeichnung » Wiederaufbau« führt. Er schert sich einen blauen Teufel um den Spruch von 1917, er bekümmert sich nicht um Amnestie. Er sieht die Sache als erledigt an. Denn wir haben inzwischen ja Revolution gehabt ... Armer Bootsmann vom Rhein, du erliegst einem Irrtum, dem Köpfe von größerer Spannweite zum Opfer gefallen. Die alte Zeit greift mit Polypenarmen in die neue Ära, das unterstempelte Papier von 1917, das dich lebenslänglich dem Kerker überliefert, besteht noch zu Recht.

1923 beginnt der gloriose Ruhrkampf.

Heiderich verliert seine Existenz; sein Kahn wird aufgelegt.

Und nun kommt das zweite Unbegreifliche: dieser gute einfältige Mensch sieht nicht, daß Herrn Cunos Ruhrkrieg aus einem patriotischen Zwischenfall sich auswächst zu einem Bombengeschäft für Abertausende; er bemerkt gar nichts von der sprichwörtlichen Ruhrweide. Er verläßt die Heimat, geht nach Bremen, um dort als Schleifer zu arbeiten, bringt sich und die Seinen mit Mühe und Not in dem neuen Beruf durch. Dann ereilt ihn endlich sein Schicksal. Er muß wegen einer Bescheinigung zur Polizei. Dort wittert man sofort den Missetäter. Er wird verhaftet, wandert wieder ins Zuchthaus. Denn er ist nicht amnestiert. Vernunft wird Unsinn, denn daß dieser Mann die sechsjährige, in Harmlosigkeit und Unwissenheit selbstgenommene Bewährungsfrist glänzend bestanden hat, danach fragt niemand.

Jetzt beginnt der einstweilen letzte Akt der Tragödie Philipp Heiderichs. Von der Strafanstalt Münster aus richtet er endlich ein Gnadengesuch an den Reichspräsidenten. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion unterstützt. Am 2. April wird die Begnadigung durch den stellvertretenden Reichspräsidenten Dr. Simons abgelehnt. Wer die Technik des Gnadenweges kennt, weiß, daß es sich hier keineswegs immer um persönliche, private Erkenntnisse des Reichsoberhauptes handelt. Es ist ein langer, schwieriger Weg, gepflastert mit dem Für und Wider von Gutachten der verschiedensten hohen Amtsstellen. Heiderich hat das Mißgeschick, nicht an dem juristischen Zwirnsfaden des Justizministeriums, sondern an der armdicken Kette des Reichswehrministeriums zu baumeln. Die Strafanstalt bestätigt zwar gute Führung, aber das Reichswehrministerium spricht sich gegen Begnadigung aus; Heiderich müsse erst eine weit »längere Strafzeit« verbüßt haben, ehe der Gnadenweg in Frage käme.

Damit ist die Sache Heiderich bis auf weiteres amtlich erledigt. Nach »längerer Strafzeit«, das heißt, nach vielen, vielen Jahren, dann wird das Reichswehrministerium abermals in Erwägung zu ziehen haben, ob der Sünder nun nicht doch genug gebüßt habe. Aber dann wird das Objekt der »Gnade«, in grauen Tagen und schwarzen Nächten verfolgt von den Gespenstern von 1917, verzehrt von der Sorge um Weib und Kind, verblödet bei Einzelhaft und Tütenkleben, vielleicht zum zweitenmal in seinem Leben rasend geworden sein, und die Zuchthausverwaltung wird vielleicht bescheinigen: Sträfling Heiderich, anfangs fügsam und willig, hat zuletzt bedenklich in der Führung nachgelassen. Trotzig und verstockt; Reden, die von Aufsässigkeit zeugen, Drohungen. Mußte wiederholt in die Strafzelle ...

In Frankreich ist nach zehn Jahren ein langer, erbitterter Kampf geführt worden um die Rehabilitierung des Namens eines jungen Offiziers, der 1914 wegen angeblicher Feigheit vor dem Feind erschossen wurde. Ganz Frankreich in zwei Lager geteilt, erlebte alle Phasen dieses späten Prozesses mit, kämpfte und litt.

Da ging es um einen Toten. Philipp Heiderich, im Zuchthaus von Münster, lebt. Lebt noch.

Er hat in einem Erregungszustand, der die Verantwortung wohl ziemlich beträchtlich minderte, einen Totschlag begangen. Er hat gebüßt. Im Kerker und mehr noch draußen in sechsjähriger harter, redlicher Arbeit. Er hat einen Totschlag begangen. Die Justiz, die den Mann nach diesen ehrlich verlebten, gut benutzten Jahren von neuem in den Kerker steckt, begeht Mord. Und sie hat nicht die Ausrede des Affekts.

Im Fall Heiderich feiert der Unsinn der alten Zeit mit der jämmerlichen Rechtsfaulheit der neuen traurige Hochzeit.

Wann wird man es endlich begreifen, daß die Krise des deutschen Rechtslebens die Krise des ganzen deutschen Volkes ist?

Montag Morgen, 11. Mai 1925


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