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Zur Pathologie des Gläubigers

Nicht von ihnen soll hier die Rede sein, bei denen sich Geld stets in beschleunigtem Durchgangsverkehr befindet, Leihen und Weiterverleihen ist ihnen die natürlichste Funktion der Welt. Auch nicht von jenen lieben Kleinen, die sich zu Tode schämen wollen, wenn sie eine Forderung präsentieren müssen. Sie empfinden tausendfach die Pein des Schuldners und gehen erleichtert und mit sich versöhnt davon, wenn er endlich die Formel gefunden, warum er heute nicht imstande sei, zu zahlen. Nicht von ihnen ist hier die Rede, sondern von jenen anderen, die die Natur nicht zum Spenden vorausbestimmt hat. Ihre Gebeorgane sind verkümmert, der Gott des Reichtums ist ihr besonderer Schutzpatron, und ihr Stammbaum geht zurück auf Nimm, den mystischen Noah des Kapitalismus, der den ersten Geldschrank erbaute, in den er von allen vor der großen Flut gesammelten Schätzen ein paar Belegexemplare verstaute. Nein, wenn sie geben, ist es Krankheit, akute zumeist, nicht chronische, Krankheit, an der man nicht stirbt, die aber für die Zukunft zu erhöhter Vorsicht mahnt und als ein erster flüchtiger Seitenblick des Sensenmannes empfunden wird.

Es ist eine seltsame Erfahrung, daß um jede kapitale Pleite ein paar Leidtragende herumstehen, die, nach Gesichtsbildung und seelischer Muskulatur zu schließen, augenscheinlich nicht zur Rolle der Klagenden geschaffen sind.

»Also auch Harpagon & Co. sind hereingefallen,« sagen die andern, weniger Strukturalen und fühlen sich mager getröstet. »Worauf sind Harpagon & Co. hereingefallen?« fragen sie weiter. »Etwa auf eine blendende Reputation, auf ein raffiniertes Scheingebäude von Werten, auf bombensichere Bürgschaften? Nein, auf ein faszinierendes Lächeln, auf einen gutsitzenden Frack, auf eine schüchterne Bitte von Fräulein Nichte ... ganz wie wir, ganz wie wir ...!«

Seit Urzeiten haben Harpagon & Co. nämlich einen Gegenspieler. Das ist ein bestimmter, aber ewig wechselbarer und schwer zu umreißender Typ.

Das sind die Unbeschwerten, die Sorge nicht kennen, aber gerunzelte Stirnen und geleerte Taschen hinterlassen, wo sie je weilten. Harpagon kennt schon seinen Gegner, sein ganzes Leben ist ein ständiges Ausweichen vor ihm, er kennt seine Macht, kennt das Lächeln, die bezaubernde Stimme, den mündelsicheren Händedruck. Ja, es sind die Bakterien des finanziellen Organismus, dem Scheckbuch so verderblich, wie andere Lunge oder Magen, man schützt sich vor ihnen, aber einmal sind sie doch da. Es hilft nichts.

Und so, wie man sich mitten in scheinbarer Gesundheit schon krank fühlt, ohne Symptome wahrnehmen zu können, so ist auch Harpagon nicht mehr gesund, wenn er langsam in seines Gegners gefährlichen Bann gerät. Er ahnt das Unheimliche, er wittert die Schlange, aber er findet sie nicht, schon versagt sein kommerzieller Tastsinn – und plötzlich bricht das Fieber aus: er öffnet die Kassette, unterschreibt Wechsel, übernimmt Garantien und was man sonst so in temporärem Irresein tut. Nachher aber sagt er: Ich habe gewußt, daß es so kommen würde!

Harpagons Feind ist als Typ moralisch anfechtbar. Aber indem er die fragile Moral des Tages kränkt, handelt er wie im Gebot einer höheren, überökonomischen Sittlichkeit als Rächer aller jener, die vor Harpagon zittern, seinen Drohungen weichen und aus ererbter Rechtschaffenheit ihre Rechnungen pünktlich bezahlen. In vielfacher Gestalt zieht er brandschatzend durch die Welt und dein stummes Bewundern gilt ihm in diesem Augenblick, da eine Quittung mit dem liebenswürdigen Namenszug »Harpagon & Co.« vor dir liegt, was von deiner ehrlichen Gutwilligkeit lauter Zeugnis ablegt als von deiner Intelligenz.

Das Tage-Buch, 5. September 1925


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