Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

507

Deutsche Pfiffe

Der Scaramouche-Film ist ein Meisterstück seiner Art. Auch wer den historischen Film an sich nicht liebt, wer die großen Unglücksfälle der Weltgeschichte nicht als geeignete Stoffe für Abendunterhaltung schätzt, fühlt sich hier ein wenig entwaffnet durch die Delikatesse der kleinen, durch das furiose Pathos der großen Szenen. Dieser breitmäulige, pockennarbige Danton, an der Spitze der Pikenmänner, dieser dürre Paragraph Robespierre auf der Rednertribüne, das sind alles in allem Erschütterungen, wie sie auch auf der Schaubühne leider selten genug geworden.

Dennoch hat es in dieser Woche fast keine Aufführung gegeben ohne kleine Zwischenfälle. Der Anlaß war die Marseillaise. Die erste Woche war es völlig gut gegangen, niemand hatte ein Haar in der Suppe gefunden. Man empfand, das ist nicht fortdenkbar, gehört zum Stil der Zeit, ist der klanggewordene Geist dieser Epoche. Bis dann der liebe gute »Lokalanzeiger«, seinem Amt als patriotische Sittenpolizei getreu, zum Sturm aufrief. Seitdem stürmt es ununterbrochen. Wenn das Orchester die Marseillaise beginnt, wenn die grandiose Lawine der Sansculottes und Hallenweiber zu rollen beginnt, dann setzt es ein paar schrille Pfiffe und ein Lokalanzeiger-Leser schreit: »Wir wollen das Schweinelied nicht hören!« oder etwas ähnliches.

Der Kapellmeister ist zu beklagen. Was soll er tun? Soll er die Tuillerien vom »Fridericus« umrauscht stürmen lassen, soll die Symbolfigur der Revolution, das Volk von Paris, akkompagniert von den einschmeichelnden Rhythmen des Ehrhardt-Liedes, zum Freiheitskampfe aufrufen? O, es gibt da so viele vaterländische Möglichkeiten. Aber auch unpolitische Melodien stehen reichlich zur Auswahl. In Karlsbad, so wurde jüngst berichtet, hat man in einem Wilhelm-Tell-Film die ergreifende Klage des jungen Melchthal um das geraubte Augenlicht seines Vaters mit dem munteren Liedchen: »Wo hast du denn die schönen blauen Augen her?« begleitet. Wenn man dieses Genre bevorzugen wollte, so würde die Revolution um vieles traulicher werden und vielleicht auch in sentimentalen-deutschen Bierherzen Bürgerrecht erobern.

Es gibt ein paar besonders Kluge, die sagen: »Gesetzt den Fall, es würde in Paris ein deutscher Geschichtsfilm gegeben, dürfte man dazu etwa das Deutschland-Lied spielen?«

Ich glaube: nicht. Aber ist das ein Maßstab? Und müssen wir denn immer die Franzosen kopieren, verehrte Mitbürger?

Montag Morgen, 5. Januar 1925


 << zurück weiter >>