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Völker ohne Signale

Es ist bedenklich charakteristisch für die Situation des Sozialismus, daß der Marseiller Kongreß der Zweiten Internationale völlig resonanzlos verlief. Europa spricht über Briand, über Caillaux und Churchill, aber nicht über Marseille. Früher waren diese Konzile der sozialistischen Ökomene Ultimaten an die bürgerliche Welt. Unwillkürlich denkt man an den Stockholmer Kirchenkongreß, wo auch eine Reihe von Ohnmachten sich abmühten, durch Vereinigung eine Macht zu werden.

Was in Marseille vor sich ging, war kein Meeting begeisterter Revolutionäre, sondern ein Stelldichein abgeklärter Parteiexzellenzen, die neben der roten Kokarde auch noch eine zweite nationale tragen. Sie sind Routiniers des politischen Handwerks, reden klug und wohltemperiert, gleich weit entfernt von Überschwang wie von bohrender Skepsis und beherrschen weniger die Massen als vielmehr die Klaviatur der Parteibureaukratie.

Sie kämpfen zwischen zwei Feuern. Überall sind sie in den Kriegsjahren in den bürgerlichen Staat hineingewachsen, und überall schickt die bürgerliche Gesellschaft sich jetzt an, die Eindringlinge auf operativem Wege wieder zu entfernen. Der Marxist hat seine Schuldigkeit getan ... Von Links droht der Kommunismus. Ist es nicht ein trübes Symbol, daß kommunistische Arbeiter den Kongreß zu sprengen versuchten? Selbst, wenn man die Moskauer Gefahr nicht überschätzen möchte, die Sozialdemokratien aller Länder stehen in der Defensive, eingeklemmt zwischen Mussolini und Sinowjew. Sie behaupten sich ziffernmäßig, aber werben nicht mehr und beeinflussen nicht mehr den Gang der Ereignisse. Noch immer wird fleißig die Internationale gesungen, aber die Völker hören die Signale nicht mehr. Das ist die peinliche Tatsache: der Sozialismus steht bereits ein wenig neben der Weltgeschichte. Er stagniert, während sich rundum alles verändert. Er hat weder den Mut, zu den alten programmatischen Forderungen zu stehen, noch sich zu wandeln ...

Die Exzellenzherren in Marseille haben vieles geredet und wahrscheinlich noch mehr beschlossen. Doch die Schicksalsfrage wurde nicht gestellt: wie der Sozialismus tatsächlich in der Entwicklung von Heute steht und für welche Wegstrecke noch das alte theoretische und ideologische Gepäck mitgeschleppt werden kann. Es ist etwas Fatales um diese Zweite Internationale: obgleich jedes ihrer Glieder durch tausend an und für sich vielleicht notwendige Kompromisse gegangen ist, noch immer hält sie fest an Emblemen und Wortschatz von einst, die längst Glanz, Glorie und Suggestivkraft eingebüßt haben. Ihre Führer, gute Gouvernementale und Ministrable, spielen noch immer eine revolutionäre Terminologie aus, die sie in der Praxis hundertmal widerlegt sahen und an die sie selbst nicht mehr glauben und glauben können. Es ist ein schwacher Trost, immer wieder zu sagen, daß dem Sozialismus die Zukunft doch gehöre. Das sagt man immer gern, wenn man die Gegenwart entgleiten fühlt.

Auch die alte Internationale ist ein Kriegsopfer geworden. Es gibt heute nur noch sozialistische Parteien mit sehr gegeneinanderlaufenden nationalen Einstellungen und Interessen, aber nicht eine große, sie alle bindende Macht. Was sich uns als die Internationale vorstellt, das gleicht einer verblühten Schönheit, die auf die Ansprüche von einst nicht verzichten kann. Noch immer die rote Revolutionsmütze und die große, das Paradies verheißende Geste. Aber es hat niemand mehr Lust, das Tänzchen zu wagen. Und wenn sie ihre Lockungen entfaltet, gibt es immer nur die eine böse Antwort:

– Du siehst mich an, du fragst mich, was dir fehle?
Ein Busen – und im Busen eine Seele ...

Montag Morgen, 31. August 1925


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