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München, 3. Dezember 1870 (an Mörike)
Sehr verehrter Freund! Diesmal schreibt meine Frau statt meiner; wir wollen versuchen, ob ein solcher Brief nicht geeigneter sei, Ihnen eine Antwort zu entlocken, als einer von mir. Außerdem bin ich seit zwei Monaten in einer argen Diskrepanz mit meinen Augen, die mir nicht erlaubt zu schreiben, zu lesen oder gar zu zeichnen; eine Kongestion gegen den Kopf hinterließ eine Schwäche der Augenmuskeln, die sich hoffentlich durch fortgesetztes ausgezeichnetes Faulenzen wieder geben wird; – den Augen selbst fehlt nichts.
Zu Ostern war es das letztemal, daß wir uns gesehen haben; Weihnachten ist nicht weit, also ist es angezeigt, wieder anzuklopfen. Seitdem war ich mit meiner Frau sechs Wochen in Reichenhall, dann bis anfangs Juli in Wien bei meiner Tochter und ging von da nach Marienbad, wo ich in der seltsamen Lage war, zu dem schlankeren Teil der Menschheit zu gehören. Leider nötigte mich der Ausbruch des Krieges, nach kaum vierzehn Tagen die Kur zu unterbrechen, die mir so vortrefflich angeschlagen hätte. Gott sei Dank! die gefürchteten Turkos blieben aus und ich brauchte nicht, wie ich fürchtete, mit Frau und Tochter irgendwo ins Gebirg zu flüchten, sondern setzte mich an den Starnberger See und arbeitete an den Kompositionen zu Grillparzers Werken, die nun als Entwürfe daliegen. Eine Zeitlang plagte ich mich mit einer Art Gedicht zum Lobe der erstaunlichen Gerechtigkeit des Geschickes und des deutschen Volkes, das seinem Erzfeind einen so schönen Sommersitz anweist wie die Wilhelmshöhe und seinen Freund und Wohltäter in so einem verwünschten Nest wie Nürtingen stecken läßt. Somit haben Sie meine ganze Geschichte und es wäre schön, wenn Sie sich entschlössen, einige Zeilen daran zu wenden, mir eine frohe Stunde zu verschaffen. Trotzdem ich aufs allerbeste versorgt bin und meine Frau sich hinlänglich plagt, mich überm Wasser zu erhalten, bleiben, bei der ungewohnten gänzlichen Untätigkeit, gelangweilte, ja melancholische Stunden nicht aus.
Mich Ihren Damen bestens empfehlend, bleibe ich in aufrichtiger Freundschaft Ihr ganz ergebener
M. v. Schwind.
Ostersonntag
Holzschnitt zu Dullers »Freund Hein«