Ludwig Preller
Griechische Mythologie Theogonie, Götter
Ludwig Preller

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3. Atlas und die Hesperiden.

Auch der Titane Atlas scheint ursprünglich dem Sagenkreise des Meeres anzugehören, insbesondere dem des Okeanos in der Bedeutung des die Erde rings umgürtenden und tragenden Weltmeers, namentlich des großen westlichen wo die Phantasie der Griechen den Ursprung und das Ende der Dinge suchte. Atlas pflegt aber immer mit den Hesperiden zusammen genannt zu werden, wie sie denn auch beide in der Vorstellung eng zusammengehören und örtlich immer in jene westlichen und nächtlichen Gegenden des großen Weltmeers und des Ursprungs und Abgrunds vom Himmel und Erde verlegt werden. In der Odyssee 1, 52 heißt es von ihm daß er die Tiefen des ganzen Meeres kenne und die ragenden Säulen halte welche Himmel und Erde stützenDie Worte ἔχει δέ τε κίονας αὐτὸς μακράς, αἳ γαῖάν τε καὶ οὐρανὸν ἄμφις ἔχουσιν werden sehr verschieden erklärt, ἄμφις ἔχειν kann aus einander halten bedeuten (Buttm. Lexil. 2 S. 219), doch leidet die bildliche Vorstellung dann an Unklarheit. Also wird ἄμφις wie ἀμφοτέρωϑεν zu verstehen sein (Od. 3, 486; 8, 340) d. h. von mehr als einer Seite, wie bei einer Stütze die ein Gewölbe trägt, auf ganz feste unerschütterliche Weise. Später dichtete man von Säulen des Proteus, die denen des Atlas im Osten entsprechen sollten, Virg. A. 11, 262., denn daß diese beiden, Himmel und Erde gemeint sind, nicht der Himmel allein, beweisen andere Dichterstellen und sonstige Zeugnisse, s. Aeschyl. Pr. 349, Paus. 5, 11, 2; 18, 1. Also wird man sich ihn als Meeresriesen denken müssen, der wie Poseidon γαιήοχος und ἀσφάλιος die tragende und stützende Allgewalt des Meeres darstellt, wie Aegaeon im Gegensatze dazu die erderschütternde Gewalt des Poseidon ἐννοσίγαιος. Da man dieses duldende Tragen der gewaltigen Last, wovon Atlas auch 439 seinen Namen des Dulders (Ἄτλας von τλᾶν) bekommen hat, als Strafe und Buße auffaßte, so entstand daraus das Bild des Titanen Atlas, für dessen Brüder Menoetios und Prometheus galten und welcher vom Zeus auf diese Weise gestraft werdeHesiod th. 517 Ἄτλας δ' οὐρανὸν εὐρὺν ἔχει κρατερῆς ὑπ' ἀνάγκης, vgl. Aesch. Pr. 429 u. fr. 305, Ibykos b. Schol. Apollon. 3,106, Eurip. Ion 1 u. A.. Und da man alle diese kosmogonischen Bilder einer einfach erhabenen Naturdichtung früh ins Märchenhafte zog und an die Grenzen der sichtbaren Welt im Westen versetzte, so bekam auch Atlas in dieser Gegend seinen festen Stand, obwohl die Odyssee noch ausdrücklich von ihm wie vom Proteus sagt, er kenne die Tiefen des ganzen Meeres (ὅστε ϑαλάσσης πάσης βένϑεα οἶδεν). Auch das Prädikat ὀλοόφρων, das er in diesem Gedichte führt, deutet wie das gleichartige ὀλοφώια εἰδὼς beim Proteus auf die dämonische Natur des Meeres, das immer für einen Sitz geheimer Weisheit und von Arglist und vielen Verwandlungen gilt. So wird auch seine Tochter Καλυψὼ auf ihrer Ogygischen Insel in der bergenden Grotte am natürlichsten für ein Bild der stillen Einsamkeit und Heimlichkeit des weiten offenen Weltmeers genommen.

Der stützenden Macht des Atlas sind die Hesperiden nahe befreundet und benachbart, diese lieblich singenden Töchter der Nacht, welchen die Hut der goldenen Aepfel drüben im Okeanos, dicht bei den Gorgonen und hart an den Grenzen des ewigen Dunkels anvertraut ist (Hesiod th. 215. 275. 335. 746 ff.). Ihre Bedeutung findet sich von selbst wenn man beachtet daß diese Aepfel und ihr Wunderbaum der schönste Schmuck eines Gartens der Götter sind, auf welchen die Sage alle Süßigkeit und Seligkeit häuft. Sie wachsen auf einem Okeanischen Eilande zu welchem kein Schiffer dringt, wo die Ambrosischen Quellen strömen beim Lager des Zeus, wie Euripides dichtet (Hippol. 742 ff.), und wo die segensprossende Erde den Göttern ihre herrlichsten Gaben spendet. Hier hat Zeus zuerst bei der Hera geruht und eben diese heilige Ehe der höchsten Götter des Himmels war es, zu deren Verherrlichung die Erde jene goldnen Aepfel wachsen ließ, Symbole der Liebe und Fruchtbarkeit, deren Hut Hera dem Drachen Ladon und den hesperischen Nymphen d. h. den Hesperiden anvertrautePherekydes b. Schol. Apollon. 4, 1396, vgl. Athen. 3, 25, Apollod. 2, 5, 11, Eratosth. Catast. 3, Hygin P. A. 2, 3, Schol. German. Arat. 49. Bald heißt der Garten ϑεῶν κῆπος bald ein Garten der Juno, Aristophanes Wolken 271 weiß von Gärten des Okeanos, Sophokles fr. 297 von einem Garten des Zeus, Kallim. Dian. 164 von einem Futter für die Hirsche der Artemis und die Rosse des Zeus, welches die Nymphen Ἥρης ἐκ λειμῶνος pflücken, Ovid F. 5, 231 ff. von einer Wunderblume im Garten der Chloris, der Hore des Frühlings, durch deren Berührung Juno schwanger wird. Der Drache Λάδων ist der Wächter dieses Gartens, daher bei Euphorion κηπουρός. Später heißt er ein Sohn der Erde oder des Typhon, hat hundert Köpfe und viele Stimmen u. s. w. s. Apollod. 2, 5,11, Schol. Apollon. a. a. O. Also ein Bild wie der Baum des 440 Lebens im Paradiese und die Aepfel der Iduna, denn auch der nordischen Sage ist dieses Bild der goldenen Aepfel bekanntRaszmann deutsche Heldensage 1, 55., ein Symbol der schaffenden Naturkraft des Ursprungs welche in jenen Okeanischen Wundergegenden ihre eigentliche Heimath hat: zugleich ein Sinnbild jener heiligen Ehe welche selbst nur eine Allegorie der ewigen Liebe und Zeugungskraft der himmlischen Natur ist, sowohl der uranfänglichen als der mit jedem Frühlinge neu sich offenbarenden. Die Hesperiden werden übrigens immer als Nymphen gedacht und heißen Töchter der Nacht, weil sie in den Gegenden der Nacht wohnen und jener Baum mit der ganzen Schöpfung aus dem Dunkel des Anfangs entsprungen istS. oben S. 32. Apollon. Rh. 4, 1414 zählt sie mit den übrigen Nymphen zum ἱερὸν γένος Ὠκεανοῖο, Andre nennen sie Töchter des Atlas oder des Hesperos oder des Phorkys u. der Keto, Sch. Apollon. 4, 1399. Nicht selten bedeuten Ἑσπερίδες aber auch die fruchttragenden Bäume und die ganze Pflanzung, wie in dem Ausdrucke Ἑσπερίδες κῆποι, Hesperidum horti.. Die gewöhnliche Mythologie kannte drei Hesperiden Aegle Erytheis und Hesperia, in welchen Namen sich die Vorstellungen des lichten Glanzes mit denen des abendlichen Schimmers der untergehenden Sonne durchkreuzen, wie in dem Bilde der Geryonsinsel Erytheia. Ein anderer Ausdruck ihres großen Reizes ist die Gabe des lieblichen Gesanges, die man ihnen beizulegen pflegteHesiod th. 518 nennt sie λιγυφώνους, Euripides Hippol. 743 ἀοιδούς, Herc. fur. 394 ὑμνωδούς, Apollon. Rh. 4, 1399 ἐφίμερον ἀειδούσας.. Die goldnen Früchte des von ihnen behüteten Baums wurden von der Hochzeit der Hera auch auf andere Hochzeiten der mythischen Vorwelt übertragen, z. B. auf die des Kadmos und der Harmonia (Nonnos 13, 351 ff.). Sie sind das ideale Vorbild der Liebe und Liebessegen bedeutenden Aepfel, wie sie den Griechen aus dem Dienste der Aphrodite und aus dem gewöhnlichen Hochzeitsgebrauche bekannt waren.

441 Das Alter der Dichtung vom Atlas zeigt sich auch darin daß sie manchen anderen mythischen Dichtungen zur stützenden Voraussetzung dient, besonders der von den Plejaden, welche die Töchter des Atlas genannt wurden (S. 364). Eine andere Nachwirkung seiner ältesten Bedeutung ist die daß Amphitrite vor Poseidon zum Atlas flüchtet, wo sie nach langem Suchen endlich der Delphin findetEratosth. cat. 31, Hygin P. A. 2, 17. Nach Oppian Halieut. 1, 388 verbarg sich Amphitrite ἐν Ὠκεανοῖο δόμοισι., also in die tiefe Verborgenheit des großen Weltmeers. In demselben Sinne wird das Seeungeheuer, welchem Andromeda preisgegeben wird, ein Atlantisches genannt, nehmlich weil es aus der Tiefe des Meeres emporgestiegen ist (Eurip. fr. 949, Philostr. Im. 1, 29).

Mit der Zeit haben sich diese Sagen dadurch verändert daß man ihnen eine geographische Wendung gab. Lange waren die Säulen des Herakles für die Griechen das äußerste Ziel der Schifffahrt gewesen, da drangen zuerst die Samier und Phokaeer darüber hinaus und es eröffnete sich eine ungeahnte Ferne, wo die Phantasie von neuem die reichlichste Nahrung fand. In diesem Sinne dichtete Solon seine von Plato im Timaeos überlieferte, im Kritias überarbeitete Fabel von der Atlantis, dem großen Festlande außerhalb der Säulen des Herakles, wo der Name Atlas zuerst in einer erweiterten Bedeutung erscheint. Dazu kam das Bild des himmeltragenden Berges Atlas, welches sich die Griechen nach Herodot von den Eingebornen jener Gegend aneigneten und sich um so leichter aneignen konnten, da auch ihnen das Bild von Bergen, welche den Himmel wie Säulen stützen, geläufig warHerod. 4, 184 τοῦτον τὸν κίονα τοῦ οὐρανοῦ λέγουσι οἱ ἐπιχώριοι εἶναι. Vgl. Aesch. Pr. 722 vom Kaukasos ἀστρογείτονας κορυφάς, Pindar P. 1, 19 κίων δ' οὐρανία συνέχει, νιφόεσσ' Αἴτνα. Euripides soll den Atlas zuerst einen Berg genannt haben, fr. 1098. Unter den späteren Dichtern vgl. Virg. A. 4, 246 ff. und seinen Nachahmer Sil. Ital. 1, 202 ff.. Einheimische Märchen und die Dichtung von den Abenteuern des Perseus und des Herakles in diesen Gegenden trugen dazu bei diesen Berg immer mehr im Lichte des Wunderbaren erscheinen zu lassenPlin. 5, 6 ff. Einer der Gipfel hieß Θεῶν ὄχημα, und so nannte man auch einen Berg an der südlichen Grenze Aethiopiens 6, 197., während unter Einwirkung anderer Einflüsse bei den Griechen die Vorstellung von einem mythischen Könige Atlas entstand, der in diesen Gegenden geherrscht habe und in himmlischen Dingen d. h. in der Astronomie und 442 Philosophie sehr erfahren gewesen sei, bis er in jenen Berg verwandelt wurdeCic. Tusc. 5, 3, 8, Virg. A. 1, 741, Diod. 3, 60; 4, 27. Er wird durch Perseus mit dem Medusenhaupte versteinert Ovid M. 4, 631 ff., Lucan 9, 654. Hin und wieder versetzte man ihn auch nach Griechenland z. B. nach Arkadien und nach Boeotien in die Gegend von Tanagra, Dionys. H. 1, 61, Paus. 9, 20, 3.. So erscheint Atlas auch auf Vasenbildern und anderen Bildwerken gewöhnlich den Himmel tragend, woraus mit der Zeit die s. g. Atlanten wurden, in der architectonischen Kunstsprache eine besondere Art von tragenden Figuren, ausnahmsweise aber auch als thronender König. Als mit der Zeit die Vorstellung von der Kugelgestalt der Welt aufkam, wurde Atlas allgemein als Träger dieser Kugel abgebildet (τὸν πόλον ἀνέχων, mundum sustinens), so daß ihn Einige sogar allegorisch auf die Axe der Weltkugel deuteten (Aristot. d. mot. an. 3). Von dieser Art sind auch die meisten noch vorhandenen Abbildungen, unter denen der Farnesische Atlas von Marmor der bekannteste ist. Atlas ist hier unter seiner Last knieend abgebildet (ἐν γόνασι), eine auch sonst nicht ungewöhnliche Art der DarstellungLetronne sur les idées cosmogr. qui se rattachent au nom d'Atlas, Ann. d. Inst. 1830 p. 159–174, R. Rochette sur les représentations figurées du personnage d'Atlas P. 1835, Müller-Wieseler D. A. K. 2, 822–829..

Bei der engen Verbindung, welche zwischen Atlas und den Hesperiden bestand, konnte es nicht fehlen daß auch diese der geographischen Bewegung folgten. Zunächst dienten sie wie Atlas dazu die Grenze der Schifffahrt d. h. des bekannten Meeres zu bezeichnen, gewöhnlich in der Gegend der Heraklessäulen, aber bisweilen auch in der der HyperboreerEurip. Hippol. 742, Apollod. 2, 5, 11, Athen. 3, 23. 25.. Oder man suchte sie auf gewissen Inseln des Atlantischen Oceans, zumal in den Gegenden des Atlantischen Gebirgs, bis zuletzt aus diesen ganz mythischen Nymphen und Bäumen die s. g. Hesperischen Früchte der späteren Zeit geworden sind, die man wieder auf verschiedene Arten von Südfrüchten, gewöhnlich auf die Goldorange deutete. Eben so frei verfuhr man mit dem Namen und der Genealogie dieser Nymphen.


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