Ludwig Preller
Griechische Mythologie Theogonie, Götter
Ludwig Preller

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b. Ate, Litai, Hybris, Nemesis, Adrasteia.

Dem Schicksale gegenüber steht der Mensch mit seinem unendlichen Verlangen und seinem endlichen Vermögen, der Sohn der Zeit und auf eine kurze Spanne Zeit beschränkt, und doch immer mit seinen Gedanken und seinem Verlangen in das Unendliche hinausstrebend. Daraus erwachsen ihm seine gefährlichsten Feinde, die bald ein dämonisches Verhängniß bald sein eigner Fürwitz über ihn kommen läßt und die noch mehr als die Zeit an seinem Untergange arbeiten. Dahin gehört der Begriff der Ate d. i. die überwältigende Leidenschaft und Gemüthsverblendung, eine Störung der geistigen und moralischen Kräfte, welche den Menschen wie ein böses Verhängniß überfällt und die übereilte That und alle Strafe derselben gleich mit sich bringt: also eine göttliche Macht, welche nach der Ilias 19, 91 ff. eine Tochter des Zeus ist und ursprünglich auch im Himmel zu Hause war, bis sie den Zeus selbst berückte, worüber sein lieber Sohn Herakles hernach sein Leben lang das schnöde 417 Erdenloos der Dienstbarkeit ertragen mußte. Da hat Zeus die Ate bei den Haaren gepackt und vom Olympos hinunter auf die Erde geworfen, wo sie nun mit leisen Füßen umgeht, über die Häupter der Menschen dahinschreitend und ohne die Erde zu berühren, so wenig merkt man ihr Kommen, und doch kann sie so schreckliches Unglück anrichtenBei Hesiod th. 230 ist Ate eine T. der Eris, bei Aesch. Ag. 1433, Choeph. 383 ein der Erinys verwandter Dämon der Unterwelt. Mehr darüber bei Lehrs populäre Aufs. S. 223 ff. Die Λιταὶ schildert Il. 9, 502 ff.! Es wäre gar nicht auszuhalten wenn nicht hinter ihr die Litai geschlichen kämen d. h. die Bitten, wir würden sagen das Gebet der Reue und Buße: auch sie Töchter des großen Zeus, aber lahm und runzelig und schielend, so daß sie der schnellen und kräftigen Ate immer nur von weitem folgen können. Doch machen sie gut so viel sie können und wer ihnen vertraut, dem haben sie immer sehr genützt, wer aber nichts von ihnen wissen will, auf dessen Haupt beschwören sie die Pest der Ate erst recht. Denn gewöhnlich ist mit diesem Verhängniß verbunden die Schuld der HybrisAesch. Pers. 821 ὕβρις γὰρ ἐξανϑοῦσ' ἐκάρπωσε στάχυν ἄτης. Vgl. Lehrs a. a. O. S. 51 ff., Nägelsbach Nachhom. Theol. S. 48 ff. d. h. die Selbstüberhebung des Menschen, wenn er seiner endlichen Natur nicht eingedenk durch seine Geschicklichkeit, seine Kraft, sein Glück zum Uebermuthe sich fortreißen läßt und dadurch den ohnehin leicht erregbaren Neid und Zorn der Götter vollends herausfordert. Davon wußte die griechische Sage so viele warnende Beispiele zu erzählen, sie und die Tragödie und die von ernsten Erfahrungen tief bewegte Zeit der Perserkriege, alle um daran die Lehre zu knüpfen daß sich die menschliche Natur vor nichts so sehr als vor diesem üppigen Muthe zu hüten habe und daß die Bescheidenheit, die Demuth, die Besonnenheit der sicherste Weg zum Glücke sei. Und dieses führte weiter zu dem Begriffe der Nemesis, so nannte man mit einem eignen Namen diesen göttlichen Unwillen über jede Störung des rechten Ebenmaaßes der Dinge, sei es daß sie durch ein außerordentliches Glück oder daß sie durch den gewöhnlich damit verbundenen Uebermuth herbeigeführt wurde. Sie ruht nicht eher bis dieses rechte Maaß, auf welchem die sittliche Weltordnung beruht, wieder hergestellt ist und ist insofern selbst diese nivellirende Macht der Ausgleichung und des rechten Maaßes, auf welches die Griechen immer so viel hielten. Also ein alter und tiefeingewurzelter Begriff, obgleich keine alte Göttin, da Homer sie als solche noch nicht 418 kennt und selbst bei Hesiod die beiden Göttinnen Αἰδὼς und Νέμεσις, welche beim Hereinbrechen des eisernen Geschlechts die Erde verlassenHesiod W. T. 200, vgl. Il. 13, 121 ἀλλ' ἐν φρεσὶ ϑέσϑε ἕκαστος αἰδῶ καὶ νέμεσιν. Daher auch Αἰδὼς eine göttliche Macht ist, Soph. O. C. 1267 ἔστι γὰρ καὶ Ζηνὶ σύνϑακος ϑρόνων Αἰδὼς ἐπ' ἔργοις πᾶσι, vgl. die Altäre Ἐλέου Αἰδοῦς Φήμης Ὁρμῆς Ὕβρεως Ἀναιδείας in Athen, Paus. 1, 17, 1, Cic. de leg. 2, 11, 28, Hesych v. Αἰδοῦς βωμός. Eher paßt zu dem späteren Begriffe Hesiod th. 223, wo unter andern Ausgeburten der Nacht genannt wird: Νέμεσις πῆμα ϑνητοῖσι βροτοῖσι, neben Ἀπάτη Φιλότης Γῆρας u. s. w., mehr das Gefühl für das Billige und Schickliche als die strafende Macht der Nemesis ausdrücken. Um so mehr tritt diese mit der Zeit hervor, bei Herodot, bei Pindar und bei andern ethisch gestimmten Dichtern und SchriftstellernPind. Ol. 8, 86 εὔχομαι ἀμφὶ καλῶν μοίρα Νέμεσιν διχόβουλον μὴ ϑέμεν. P. 10, 42 πόνων δὲ καὶ μαχᾶν ἄτερ οἰκέοισι φυγόντες ὑπέρδικον Νέμεσιν, vgl. Herod. 1, 34, den Hymnus des Mesomedes und viele Gedichte der Anthologie.. Dahingegen die Mythologie und der Cultus die Nemesis auch als eine mächtige Göttin der Natur kennt, welche wahrscheinlich aus dem Culte einer andern Göttin abstrahirt ist, entweder aus dem der Aphrodite oder aus dem der Göttin Erde. So scheint namentlich die Nemesis der Kyprien, mit welcher Zeus die Helena zeugt, dem Ideenkreise der Aphrodite von Kythera anzugehören. Dieselbe Nemesis wurde aber später zu Rhamnus in Attika verehrt, ein sehr berühmter Gottesdienst, daher Nemesis auch die Rhamnusische schlechthin genannt zu werden pflegte. Sie galt für eine Tochter des Okeanos und für die Mutter der Helena, auch für die des ErechtheusSuidas v. Ῥαμνουσία – ἱδρύσατο δὲ αὐτὴν Ἐρεχϑεὺς μητέρα ἑαυτοῦ οὖσαν, ὀνομαζομένην δὲ Νέμεσιν καὶ βασιλεύσασαν ἐν τῷ τόπῳ, vgl. oben S. 158 und die Inschrift aus dem Triopion des Herodes: πότνι' Ἀϑηνάων ἐπιήρανε Τριτογένεια, ἥ τ' ἐπὶ ἔργα βροτῶν ὁρᾴας Ῥαμνουσιὰς Οῦπι., welcher sonst ein Sohn der Erde hieß; auch nannte man sie Upis, ein Name welcher wie bei der Artemis (S. 229) ihre schützende Aufsicht ausdrücken sollte. Ferner feierte man in Athen unter dem Namen Νεμέσεια ein TodtenfestHarpokr. Suid. Phot. v. Νεμέσεια, Bekk. An. 282. Wahrscheinlich identisch mit dem Feste der γενέσια, Hesych v., Bekk. An. 231., auf welches wir beim Cultus der attischen Ge zurückkommen werden. Obwohl in der Zeit der Perserkriege diese Nemesis doch auch vorzugsweise die ethische Macht der Strafe des Uebermuths bedeutet haben muß, da die Legende von dem Bilde der in Rhamnus verehrten Nemesis erzählte, es sei aus einem 419 Marmorblock verfertigt worden den die Perser aus Paros gebracht hätten, so sicher glaubten sie des Tropaeons zu sein. Und dennoch führt die Geschichte und Ausstattung desselben Bildes wieder auf andre Gedanken, denn Phidias oder sein Schüler Agorakritos hatten mit demselben eigentlich eine Aphrodite darstellen wollenPaus. 1, 33, 2, Plin. 36, 17, Zenob. 5, 82, Hes. Phot. Suid. v. Ῥαμνουσία.. Es trug auf dem Haupte eine mit Hirschen und kleinen Nikebildern gezierte Krone, in der Linken den Zweig eines Apfelbaumes und in der Rechten eine Schale auf welcher Aethiopen abgebildet waren, was man auf ihren Ursprung vom Okeanos zu beziehen pflegte. Am Fußgestell sah man Scenen aus der Geschichte der Helena. Ausserdem gab es einen angesehenen Dienst der Nemesis oder vielmehr der Νεμέσεις in Smyrna, denn diese Gottheit wurde hier in der Mehrzahl verehrt und zwar in der Gestalt von geflügelten DämonenVermuthlich waren ihrer zwei, s. Paus. 7, 5, 1, Eckhel D. N. 2 p. 548 sqq., Böckh C. I. n. 2663. 3148. Paus. 1, 33, 6 ἐπιφαίνεσϑαι τὴν ϑεὸν μάλιστα ἐπὶ τῷ ἐρᾶν ἐϑέλουσιν, ἐπὶ τούτῳ Νεμέσει πτερὰ ὥσπερ Ἔρωτι ποιοῦσιν, daher die Chariten über ihren Bildern, P. 9, 35, 2. Bei Alkiphron wird Nemesis oft von den Hetaeren angerufen.. Sie galten für Töchter der Nacht, hatten aber auch hier neben ihrer sittlichen Aufsicht mit Liebeswerken und dem natürlichen Entstehen und Vergehen der Dinge zu thun, daher das Bild der Kybele in Smyrna kleinere Bilder solcher Nemeseis auf der Hand trug. Endlich die nahe verwandte Adrasteia scheint das Product eines Dienstes der Großen Mutter in der Gegend von Kyzikos zu seinVgl. die Verse der Phoronis b. Schol. Apollon. 1, 1129 und Aeschylos b. Strabo 12, 580, Marquardt Cyzicus S. 103 ff. Von der idaeischen Adrasteia oben S. 103.. Den ursprünglich wohl asiatischen Namen suchte man sich nach griechischer Weise durch ἀναπόδραστος i. q. ἄφυκτος oder durch die Ableitung von einem Heros Adrastos zu erklären. Ausdrücke wie ϑεσμὸς Ἀδραστείας, ὀφϑαλμὸς Ἀδραστείας, προσκυνεῖν τὴν Ἀδράστειαν d. h. ihr die Ehre gebenAesch. Pr. 936 οἱ προσκυνοῦντες τὴν Ἀδράστειαν σοφοί. Eur. Rhes. 342 nennt sie eine T. des Zeus: Ἀδράστεια μὲν ἁ Διὸς παῖς εἴργοι στομάτων φϑόνον., wurden nun sowohl den Philosophen als den Dichtern und Rhetoren geläufig, während andere Dichter z. B. Antimachos und Kallimachos beide, Nemesis und Adrasteia, völlig gleichsetzen. Dargestellt wurde diese Göttin wie eine Sinnende und Gedankenvolle mit den Attributen des Maaßes (πῆχυς) oder des wie ein solches 420 gehaltenen Arms, oder des Zaums oder des Joches, also als Göttin der weisen Beschränkung und Mäßigung. Oder ihre Bilder drückten mehr die unentrinnbare Geschwindigkeit der Adrasteia aus, durch Beflügelung Rad und GreifenwagenMüller-Wieseler D. A. K. 2, 948–954..


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