Ludwig Preller
Griechische Mythologie Theogonie, Götter
Ludwig Preller

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5. Das Schicksal.

Die Vorstellungen von der göttlichen Vorsehung haben von jeher mit denen vom Schicksal im Kampfe gelegen, sowohl in den Religionen als bei den Gebildeten. Es ist eben nur eine verschiedene Art sich die Ordnung der Dinge in letzter Instanz zu denken, entweder als eine natürliche und in allgemeinen Weltgesetzen begründete oder als eine von dem persönlichen Willen Gottes oder der Götter abhängige. Polytheistische und mythologische Religionen bedürfen der Idee des Schicksals noch weit mehr als die andern, weil dieselbe sowohl einen Ersatz für das Postulat einer letzten und höchsten Einheit bietet als für die phantasievolle Auffassung aller göttlichen und menschlichen Vorgänge einen dunklen Hintergrund, auf dem sich die Bewegungen der epischen Personen um so lebhafter abheben. Uebrigens muß man sich hüten die von den Orakeln verbreiteten Vorstellungen, wie sie oft bei Herodot und bisweilen in sehr herber Weise ausgesprochen werden1, 91 τὴν πεπρωμένην μοῖραν ἀδύνατά ἐστι ἀποφυγέειν κὰι ϑεῷ., und die der tragischen Bühne für die allgemeinen und für Thatsachen des Volksglaubens zu halten.

Als weltregierender Gott wurde vor allen Zeus gedacht, dessen Wille (Διὸς βουλή) im Epos in allen göttlichen und menschlichen Angelegenheiten die letzte Ursache und Entscheidung bildet. Nicht selten werden auch statt seiner die Götter oder ein Gott ohne nähere Bestimmung genannt (ϑεοί ϑεός) und zwar, wenn von allgemeinen Verhängnissen die Rede ist, mit dem bei allen Vorstellungen vom Schicksal so 412 bedeutungsvollen Bilde des Spinnens (ἐπικλώϑειν), welches auch vom Zeus gebraucht wirdOd. 4, 207 ῥεῖα δ' ἀρίγνωτος γόνος ἀνέρος ᾧτε Κρονίων ὄλβον ἐπικλώσῃ γαμέοντί τε γεινομένῳ τε. 3, 208 οὔ μοι τοιοῦτον ἐπέκλωσαν ϑεοὶ ὄλβον. 8, 579 ἐπεκλώσαντο δ' ὄλεϑρον ἀνϑρώποις. 11, 139 τὰ μὲν ἄρ που ἐπέκλωσαν ϑεοὶ αὐτοί. 16, 64 ὣς γάρ οἱ ἐπέκλωσεν τάγε δαίμων.. Dahingegen das natürliche Verhängniß gewöhnlich mit dem Ausdruck εἵμαρται oder εἵμαρτο bezeichnet wird, von μείρομαι zutheilenIl. 21, 281 νῦν δέ με λευγαλέῳ ϑανάτῳ εἵμαρτο ἁλῶναι, eine oft wiederholte Formel, s. Od. 5, 312; 24, 34. Hesiod th. 894 von der Metis ἐκ γὰρ τῆς εἵμαρτο περίφρονα τέκνα γενέσϑαι. Theogn. 1033 ϑεῶν εἱμαρμένα δῶρα., auch mit πέπρωται von πορεῖν, woraus bei den Späteren die personificirten Schicksalsmächte Εἱμαρμένη und Πεπρωμένη geworden sind. Bei Homer erscheint in diesem Sinne gewöhnlich die Μοῖρα d. i. die Zutheilerin oder Αἶσα d. i. der göttliche Ausspruch, die letzte Entscheidung, und zwar beide sowohl in dem objectiven Sinne einer höchsten Macht als in dem subjectiven des einem Jeden zugefallenen LebensloosesAuch spätere Dichter brauchen den Ausdruck Μοῖρα oft in dem allgemeineren Sinne des Schicksals, s. Pindar N. 7, 57, Soph. Philokt. 1466 ἡ μεγάλη Μοῖρα – χὠ πανδαμάτωρ δαίμων.. Namentlich erkannte man das Walten der Moere in dem endlichen Schicksal des Todes, und so wird es gelegentlich ausdrücklich ausgesprochen daß auch ein Gott dem von ihm geliebten Menschen nicht helfen könne wenn seine Stunde geschlagen hat (Od. 3, 236–38, Il. 18, 117; 19, 417 u. a.), obgleich auch diese Regel nicht ohne Ausnahme ist. Denn wie die ganze Mythologie eine Geschichte von Wundern ist, in welcher die Götter nach Willkür in den natürlichen Verlauf der Dinge eingreifen, so giebt es selbst für Leben und Tod der Sterblichen keine unbedingt feste Vorausbestimmung, sondern der Wille des Zeus wird auch in dieser Hinsicht nicht selten als die letzte Entscheidung genannt. Daher der häufig wiederkehrende Ausdruck Διὸς αἶσα und der sinnverwandte Μοῖρα ϑεῶνIl. 17, 321, Od. 3, 269; 9, 52, Nitzsch z. Od. 3, 236–38, Nägelsbach Hom. Theol. S. 113 ff., Nachhom. Theol. S. 141 ff.. Im Allgemeinen wird man annehmen dürfen daß die Griechen d. h. die Dichter der epischen Mythologie sich das Schicksal als das oberste Naturgesetz und die Götter als dessen willige Vollstrecker dachten, aber so daß die Ausführung der Schicksalsbeschlüsse von ihnen abhing, schon deshalb weil es gegen die Natur des Schicksals ist persönlich einzugreifen. 413 Daher die häufige Wendung daß Jemand nicht zu der ihm bestimmten Stunde gestorben oder daß sonst etwas gegen den Willen des Schicksals geschehen wäre (ὑπὲρ μοῖραν, ὑπέρμορον, ὑπέρμορα, ὑπὲρ αἶσαν), wenn nicht Zeus oder ein anderer Gott noch zu rechter Zeit eingeschritten wäre.

Aus diesen Vorstellungen ist der Glaube an die Moeren hervorgegangen, neben welchen das Epos nur die Erinyen als lebhafter personificirte Schicksalsmächte kennt, diese letzteren oft in einer ähnlichen Bedeutung wie sie später der Nemesis zugeschrieben wurde. Mit der Zeit nehmlich vermehrten sich diese Personificationen des Schicksals, da die Verehrung allgemeiner Naturmächte von selbst bildliche Ausdrucksweisen verwandter Bedeutung darbot. So führte das Bild der Mutter Erde zur Themis, das der Rhea zur Adrasteia, das der Aphrodite Urania, wie es scheint, zur mythologischen Befestigung der Nemesis und der Tyche. Noch andre Vorstellungen der Art entwickelten sich mit dem weiter um sich greifenden Glauben an Dämonen.


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