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siehe Bildunterschrift

Weiße Mistel, Viscum album L.

Gefahrdrohende Träume ängstigten Baldr, den reinen, unschuldsvollen Lichtgott, den Sohn Odins und der Frigg. Da forderte seine Mutter allen Wesen einen Eid ab, den lichten Gott, die Freude des Weltalls, nicht verletzen zu wollen. Nur ein Pflanzenschößling, der Misteltein heißt, schien ihr zu jung, um ihn in Eid zu nehmen. Das machte sich Loki zu Nutzen, riß den Schößling mit den Wurzeln aus und gab ihn, als die Götter sich auf dem Thingplatze mit Schießen nach dem nun unverwundbaren Baldr vergnügten, seinem blinden Bruder Hod in die Hand. Dieser durchbohrte mit der von Loki gerichteten Gerte den Baldr, »der unglückseligste Schuß, von dem Götter und Menschen wissen«, wie die jüngere Edda erzählt.

Dieser Mythus ist nur ein Beispiel für die große, in England noch nicht erloschene Bedeutung, welche die Mistel in Sage und Brauch der alten Germanen besaß. Und sie ist in der That eine der interessantesten deutschen Pflanzen. Hoch oben am Stamme oder im Gezweig einer Kiefer, einer Schwarzpappel, eines Apfelbaums schwebend, senkt sie als echter Schmarotzer oder Parasit aus einem unter der Rinde entlang laufenden Hauptwurzelstrange ihre Saugwurzeln in das Holz ihrer Wirtspflanzen, zu denen etwa 50 Laub- und Nadelhölzer gehören. Diese Saugwurzeln oder Senker entnehmen dem Holze des Wirtes die nötigen Nährstoffe. Die Mistel ist jedoch nicht ganz auf fremde Ernährung angewiesen; einen Teil ihrer Baustoffe erwirbt sie mit Hilfe ihrer bleichgrünen Blätter selbst. – Im Erstfrühling entfaltet sie ihre Blüten, die, obwohl unansehnlich, doch zur Anlockung von Insekten, nach meiner Beobachtung auch von Ameisen und kleinen Fliegen, wohlgeeignet sind; denn sie werden in ihrer Augenfälligkeit durch die ockergelbe Farbe der jungen Äste unterstützt und besitzen sowohl Honig als auch angenehmen, orangeblütenähnlichen Duft. In den reifen, weißgelblichen Beeren ist der Kern von einer sehr klebrigen Masse, dem Viscin, umhüllt; vermittelst dieser haftet die herabfallende und beim Aufstoßen zerplatzende Beere an unteren Ästen oder Zweigen und giebt so dem Samen die Möglichkeit, sich hier anzuheften und zu einem neuen Busch auszuwachsen. Am meisten trägt zur Aussaat der Pflanze aber die Misteldrossel bei, welche während des Winters eifrig nach den Beeren sucht und die unverdauten Samen mit ihrem Unrat an die Bäume klebt. Da man aus den Mistelbeeren früher Vogelleim bereitete, so sagten die Alten mit Recht von der Drossel: Turdus ipse sibi malum cacat!

Riemenblumengwächse oder Loranthaceen. Klasse XXII. Holzgewächs. März, April. H. 0,30 – 0,60 m.

 


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