Thomas von Kempen
Nachfolge Christi
Thomas von Kempen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtundfünfzigstes Kapitel. .

Forsche nicht in den unerforschlichen Tiefen der göttlichen Ratschlüsse!

Mein Sohn / zerbrich dir den Kopf nicht mit eitlem Forschen und Wortwechseln über die geheimen Führungen Gottes: warum dieser so arm und verlassen / jener so klug und in Gnade aufgenommen / dieser so tief erniedrigt / jener so hoch erhöht werde. Denn alles dies liegt über dem Gesichtskreis der menschlichen Vernunft. Kein menschliches Nachforschen kann die Ratschlüsse Gottes erforschen / keine gelehrte Streitrede kann sie erörtern. Wenn also dein Feind solche Gedanken dir in die Seele legt / oder neugierige Menschen darüber Aufschluß von dir haben möchten / so antworte du nur mit dem Propheten: Gerecht bist du / o Gott / und gerecht sind alle deine Ratschlüsse / und: Die Urteile des Herrn sind Wahrheit und bewähren sich selbst als Wahrheit! Denn meine Gerichte sind da / um einen heiligen Schauer über die Menschenherzen zu verbreiten / und nicht / um von den Menschenköpfen untersucht und gerichtet zu werden.

Grüble und disputiere auch nicht über die Verdienste der Heiligen / wer etwa heiliger als andere / wer im Reiche Gottes der Größere sein möge. Das Dichten und Forschen dieser Art erzeugt gar oft unnützes Gezänk / nährt Eitelkeit und Stolz / weckt Neid und Zwietracht; da einer diesen / ein anderer jenen Heiligen über alle anderen hochmütig erhebt. Dergleichen Dinge wissen und erforschen wollen / schafft keinen Nutzen und mißfällt den Heiligen; weil ich kein Gott der Zwietracht / sondern ein Gott des Friedens bin; und dieser Friede mehr in wahrer Demut als eigener Erhöhung besteht.

Einige haben mehr Neigung zu diesem oder jenem Heiligen / aber bei dieser Neigung unterläuft mehr Menschliches als Göttliches. Ich bin es / der alle Heiligen geschaffen hat / ich habe ihnen Gnade geschenkt / ich habe ihnen Herrlichkeit zugeteilt / ich kenne ihre Verdienste / ich bin ihnen mit den Segnungen meiner Liebe zuvorgekommen / ich habe sie / die Geliebten / von Ewigkeit vorher gekannt / ich habe sie mir von der Welt ausgesucht / nicht sie mich. Ich habe sie durch meine Gnade gerufen / durch meine Erbarmungen angezogen / durch mancherlei Prüfungen hindurch und zu mir herangeführt. Ich habe sie mit den süßesten Tröstungen heimgesucht / ich ihnen die Gabe der Beharrlichkeit geschenkt / ich ihrer Geduld die Krone aufgesetzt.

Ich kenne den Ersten und Letzten / ich liebe sie alle mit unvergleichlicher Liebe. Mich soll man in allen meinen Heiligen loben / mich über alles preisen / mich in jedem ehren; denn ich habe sie groß und herrlich gemacht und vorherbestimmt zur Herrlichkeit ohne alles vorhergegangene Verdienst. Wer also einen von meinen Mindesten verachtet / der ehret auch den Großen nicht / denn ich habe den Kleinen und den Großen geschaffen. Und wer einen von den Heiligen verkleinert / der verkleinert auch mich und alle übrigen im Reiche der Himmel. Alle Heiligen sind eins durch das Band der Liebe / eins erkennen / eins wollen sie alle / alle lieben einander / als wenn sie einer wären.

Und was noch mehr ist / alle lieben mich ungleich mehr als sich selbst und ihre Verdienste. Ganz außer sich selber und über alle Eigenliebe erhaben / sind sie nichts als lauter Liebe zu mir und wollen nichts als Liebe; und diese Liebe ist ihr Genuß / ihre Ruhe in Gott / ihr Seligsein. Nichts kann sie von mir abwendig machen / nichts kann sie niederdrücken; denn sie sind voll von der ewigen Wahrheit und durchglüht von dem Feuer der unauslöschlichen Liebe. Verstummen sollen also die fleischlichen / tierischen Menschen / sollen es nicht wagen / auch nur ein Wort zu reden von dem Leben der Heiligen / denn sie kennen keine Freude als die der Eigenliebe und keine Liebe als die zu sich selbst. Sie geben und nehmen nach dem Gewicht ihrer Neigung / nicht nach dem Maßstab der ewigen Wahrheit.

Einige verfehlen sich hierin aus Unwissenheit / sie sind noch nicht erleuchtet genug und haben vielleicht in ihrem ganzen Leben nie eine lautere / vollkommene / wahrhaft geistliche Liebe gegen irgend einen Menschen gefühlt. Es ist weiter nichts als natürliche Neigung und bloß menschliche Freundschaft / was sie zu diesem oder jenem Heiligen hinzieht. Und ihr irdischer Sinn für das / was irdisch ist / mischt sich unvermerkt auch in ihr Urteil von dem / was überirdisch ist. Aber ach / wer wird ihn messen / den unermeßlichen Abstand zwischen dem / was die Unmündigen denken / und dem / was die Erleuchteten im vollen Licht höherer Offenbarung schauen!

Darum hüte dich / mein Sohn / von alledem vor- und aberwitzig zu reden oder zu schreiben / was dein Wissen übersteigt / strebe / ringe vielmehr danach / daß du einst wenigstens als der Geringste im Reiche Gottes mögest befunden werden. Und wenn jemand auch gewiß wüßte / wer im Reiche Gottes an Heiligkeit und Größe obenan stünde / was würde ihm dies Wissen nützen / wenn es ihn nicht zuerst vor mir in den Staub niederwürfe und dann ihn wieder aufrichtete zur größern Verherrlichung meines Namens? Wer immer vor Gott erwägt / wie groß seine Sünden / wie gar klein und schwächlich seine Tugenden / wie fern sein Wandel von der Vollkommenheit der Heiligen sei / handelt ungleich gottgefälliger als der / welcher die größern oder kleinern Verdienste der Heiligen in gelehrten Streitreden auseinandersetzt. Besser ist es / die Heiligen mit heißen Tränengebeten / in Demut und Andacht des Herzens um ihre Fürbitte anzuflehen / als / was von ihrer Herrlichkeit für uns im Dunkel liegt / mit verlorenem Forschen aufhellen zu wollen.

O sie sind gar wohl zufrieden / wenn es nur die Menschen auch wären und ihrem leeren Geschwätz einmal ein Ende machten! Sie suchen keinen Ruhm in ihren eigenen Verdiensten / weil sie sich selbst nichts Gutes / weil sie alles Gute mir zuschreiben / mir / der ich ihnen alles Gute aus grenzenloser Liebe geschenkt habe. Ihre Freude an Gott und ihre Liebe zu Gott ist so überfließend groß / daß ihnen nichts mangelt und nichts mangeln kann von alledem / was herrlich und selig macht. Je größer ihre Herrlichkeit / desto größer ihre Demut; je größer ihre Demut / desto näher und lieber sind sie mir. Deshalb heißt es auch / daß sie ihre Kronen niederlegten vor Gott und fielen auf ihr Angesicht vor dem Lamme und beteten an den Ewiglebenden.

Viele fragen / wer der Größte im Himmelreich sei / und wissen nicht / ob sie selbst gut genug sein werden / einst auch nur die Stelle des Geringsten einzunehmen. Übrigens ist es schon etwas Großes / auch der Geringste im Himmel zu sein / wo alle groß sind / weil alle Kinder Gottes heißen und sind. Der Geringste soll zu Tausenden werden / der Kleinste zu einem starken Volke. Fluch und Tod kommen über den Sünder von hundert Jahren. Denn als seine Jünger Jesus fragten / wer denn der Größere im Himmelreiche wäre / bekamen sie die unerwartete Antwort: Wenn ihr nicht ganz umgeändert und wie die kleinen Kinder werdet / so könnt ihr in das himmlische Reich nicht eingehn. Wer also so klein in seinem Auge ist wie dieses Kind / der wird der Größte im Himmelreiche sein!

Wehe denen / die zu groß sind / um mit den Kleinen klein zu werden; denn die Tür des Himmels ist auch niedrig und nicht hoch genug / um so Große einzulassen! Wehe auch den Reichen / die ihren Himmel hier auf Erden haben; denn sie werden draußen stehen müssen und heulen / während die Armen in das Reich Gottes eindringen! Darum freuet euch / ihr Demütigen / jauchzet / ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer / ist euer / wenn ihr in Wahrheit vor Gott wandelt!


 << zurück weiter >>