Thomas von Kempen
Nachfolge Christi
Thomas von Kempen

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Neunzehntes Kapitel.

Worin die wahre Geduld besteht / und daß man das Unrecht geduldig leiden muß.

Was klagst du / mein Sohn? Nimm doch einmal zu Herzen / was ich und die Heiligen gelitten haben / und mach dem Klagen ein Ende! Du hast ja noch nicht bis zum Blutvergießen wider Sünde und Unrecht gekämpft; alles / was du zu leiden hast / ist im Grunde nichts oder sehr wenig im Vergleich mit dem / was die Heiligen ausgestanden haben / die durch so schwere Versuchungen / so heiße Plagen / so mannigfaltige Prüfungen sich hindurchkämpfen mußten. Du sollst also die größeren Leiden anderer Menschen dir zu Gemüte führen / damit du deine geringen Leiden leichter tragen lernst. Und wenn deine Leiden dir nicht so gering vorkommen / so mag eben dies eine Frucht deiner Ungeduld sein / die aus kleinen Leiden große macht. Doch sei dein Leiden klein oder groß / das tut nichts zur Sache. Du sollst alles / was Leiden heiß t / geduldig tragen lernen.

Je besser du zum Leiden dich anschickst, desto vernünftiger handelst du / desto angenehmer in meinem Auge und desto würdiger der himmlischen Belohnung bist du. Du wirst auch deine Leiden um so leichter ertragen / je mehr du durch kleine Leiden auf größere dich schon vorgeübt und darauf gefaßt gemacht hast. Du mußt aber nicht etwa sagen: Von so einem Menschen kann ich so ein Unrecht unmöglich ertragen / und wenn ich es auch könnte / so müßte ich es doch nicht. Denn er hat mir einen so großen Schaden getan / hat mir solche Dinge aufgebürdet / an die mein Herz nie gedacht hat. Wenn mir ein anderer Mensch ein Unrecht zugefügt hätte / da wollte ich es gern ertragen und mich nach Kraft umsehen / es geduldig zu ertragen! So denken ist im Grunde doch nur Torheit. Denn wer so denkt / der weiß nicht einmal / worin das Wesen der Geduld besteht / blickt auch nicht auf zu dem / der eigentlich die Geduld krönen wird / sondern sieht nur immer auf die Menschen / die weh tun / und auf das Unrecht / das sie ihm angetan haben.

Wer nur so viel leiden will / als er nach dem Urteil seiner fünf Sinne oder seiner Neigung leiden zu können oder zu müssen glaubt / oder nur von solchen Menschen / von denen er noch am liebsten etwas leiden möchte / der mag viele Sachen haben / aber die wahre Geduld hat er nicht. Wer die wahre Geduld besitzt / der sieht nicht darauf / ob der / von welchem er etwas zu leiden hat / über ihn oder seinesgleichen sei / sieht nicht darauf / ob er von einem guten / heiligen Manne oder von einem nichtswürdigen / verkehrten Menschen in der Geduld geübt wird; sondern alles Widrige / das ihm von diesem oder jenem Geschöpf begegnen mag / alles nimmt er gleichmütig und wie von der Hand Gottes dankbar an und hält dieses Leiden für einen großen Gewinn. Denn das geringste Leiden / das ein Mensch um seines Gottes willen duldet / wird ein großer Edelstein in der Krone des Dulders.

Rüste dich also zum Streite / wenn du den Siegeskranz erstreiten willst. Denn ohne Streit kannst du die Krone der Geduld nicht erlangen. Wenn du nicht leiden willst / so sprichst du zur Krone: Ich will dich nicht. Wenn du aber die Krone willst / so streite wie ein Mann und leide wie ein Held. Ohne Arbeit wird keine Ruhe / ohne Streit kein Sieg errungen.

Lieber Herr / laß es durch deine Gnade mir möglich werden / was nach meiner Natur mir unmöglich zu sein scheint. Du weißt es am besten / daß ich so wenig Leiden ertragen kann / daß der leiseste Wind von Trübsal / der wider mich sich erhebt / mich zu Boden wirft. O laß mir jede Übung in der Geduld um deines Namens willen nur recht wünschenswert und lieblich werden. Denn um deinetwillen leiden und geplagt zu werden / das macht gut und selig.


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