Thomas von Kempen
Nachfolge Christi
Thomas von Kempen

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Dreiunddreißigstes Kapitel.

Von der Veränderlichkeit des Herzens und von der festen Richtung unserer Endabsicht auf Gott.

Traue / mein Sohn / deinem eigenen Herzen nicht / denn jetzt ist es so und gleich darauf wieder anders. Solange du lebst / bist du / auch wider deinen Willen / der Veränderlichkeit preisgegeben / bald freudig / bald traurig / bald stille / bald stürmisch / jetzt voll Andacht und gleich darauf dürr und trocken wie eine Sandwüste / jetzt fleißig / dann träge / diesmal voll Ernst / ein andermal leichtsinnig und ausgelassen. Wer aber im Geist wohlgeübt ist und die rechte Wahrheit besitzt / der hat bei all dieser Veränderlichkeit seines Herzens einen unveränderlichen Standpunkt / heftet seinen Blick nicht auf die Empfindung / die kommt und geht / oder auf die mancherlei Seiten / von denen der Wind bald so / bald anders herweht / sondern richtet all seine Gedanken und Absichten auf den einen / wahren / besten Zielpunkt hin. Denn wenn das geheimste Auge seines Geistes bei den unzähligen / einander durchkreuzenden Begebenheiten immer zu mir und nur zu mir aufschaut / so kann es immer dasselbe / sich gleich / und bei allem / was von Außen erschüttert / im Innern unerschüttert bleiben.

Je mehr nun dieses Auge / das ohne Unterlaß zu mir aufschaut / sich reinigt / desto fester steht der Mann im Sturm und Ungewitter. Aber auch dies reine / helle Auge / das zu mir aufblickt / bleibt nicht immer rein und hell. O es ist so bald ein Seitenblick auf ein Gut getan / das unser Verlangen reizt. Selten findest du den Mann / der ganz frei ist von allen Fesseln / das heißt / nie sich selbst sucht. So kamen einst die Juden zu Martha und Maria nach Bethanien nicht bloß um Jesu willen / sondern auch / um den Lazarus zu sehen. Man muß also das geheimste Auge / nämlich die herrschende Absicht bei all unsern Handlungen / reinigen / damit es recht sehe / und man muß es über alles / was nur Mittel ist / emporrichten und zu mir / als dem letzten Zielpunkt / erheben.


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