Thomas von Kempen
Nachfolge Christi
Thomas von Kempen

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Dreiundfünfzigstes Kapitel.

Die Gnade des Himmels ist etwas anderes als Weisheit der Erde.

Mein Sohn / es ist ein kostbar Ding um meine Gnade. Sie läßt sich mit äußeren Dingen und mit irdischem Trost nicht vermischen. Du mußt also alle Hindernisse der Gnade aus dem Weg räumen / wenn du wünschest / daß sie freien Einfluß in dein Herz haben soll. Suche dir einen verborgenen Ort aus und lebe da einsam und in dir gesammelt; bekämpfe in dir die eitle Begierde / immer nur mit Menschen zu reden; laß dein Herz vielmehr vor Gott in einem andächtigen Gebet sich ergießen / damit dein Gewissen rein und dein Gemüt stets weich und offen für himmlische Eindrücke bleibe. Lerne die ganze Welt für nichts achten und den innern Herzensumgang mit Gott allem / was außer dir ist und dich außer dir umhertreibt / vorziehen. Denn dein Herz kann nicht mit mir Umgang haben und zugleich den vergänglichen Dingen mit geheimer Lust anhangen. Um mir zu nahen / soll dein Herz von allem / was dir nahe ist / sich entfernen / soll sich losmachen von der ungeordneten Anhänglichkeit an Bekannte und Freunde und dem zeitlichen Trost Abschied geben. In diesem Sinn ermahnt Petrus die ersten Christen / daß sie sich als Fremdlinge und Pilger auf Erden von aller Liebe zum Irdischen rein bewahren sollen.

O wenn den Sterbenden keine Neigung an die Erde heftet / wie frei muß sein Herz / wie groß seine Zuversicht sein. Aber ein krankes Gemüt hat keinen Sinn für die Gesundheit / die darin besteht / daß der unvergängliche Wille sich losmacht und reinhält von aller Anhänglichkeit an das Vergängliche; und der tierische Mensch versteht nicht die Freiheit des geistigen Menschen. Und doch bleibt es ewig wahr: Wer das wahre innere / geistliche Lebern in sich haben will / der muß sich losmachen von allen ungeordneten Neigungen zu allen übrigen Dingen / nahen und fernen / und muß vor keinem Feinde sorgsamer sich hüten als vor sich selbst. Denn wenn du dich vollkommen besiegt hättest / so würdest du alles übrige ganz leicht unter das Joch bringen. Sich selbst besiegt zu haben / das ist der vollendete Sieg. Denn wer es in der Selbstbeherrschung soweit gebracht hat / daß seine Sinnlichkeit der Vernunft / und die Vernunft mir in allen Dingen gehorcht / der ist der wahre Sichselbstbesieger und der rechte Herr der Welt.

Wenn du diese Höhe ersteigen willst / so mußt du mit dem Mut eines Mannes anfangen / mußt die Axt an die Wurzel legen / mußt ausrotten und austilgen alle ungeordneten Neigungen zu dir selbst und zu allen Gütern / die vergänglich sind und deine törichte Eigenliebe reizen können. Aus dieser Sünde / das heißt aus der ungeordneten Liebe / mit welcher der Mensch an sich selbst hängt / sprießt jede andere Sünde hervor / die in ihrer Wurzel muß zerstört werden. Und wer diese Wurzel alles Bösen in sich unterdrückt und zerstört hat / der wird sogleich Frieden und Ruhe in vollem Maß genießen. Aber eben deswegen / weil so wenige Menschen vollkommen sich absterben / eben deswegen bleiben sie in sich selbst wie in einem starken Netz verstrickt und können nie über sich selbst sich hinaufschwingen. Wer aber in wahrer Freiheit mit mir wandeln will / der muß alle bösen und ungeordneten Neigungen in sich ertöten und keinem Geschöpf mit Eigenliebe und Lüsternheit anhangen.


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