Thomas von Kempen
Nachfolge Christi
Thomas von Kempen

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Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Von der Betrachtung des menschlichen Elends

Sei / wo du willst / und wende dich / wohin immer du willst / wenn du nicht zu Gott dich hinwendest / so bist du überall ein elender Mensch. Warum wirst du doch sogleich uneins mit dir / wenn die Sachen einen andern Gang nehmen / als du wünschest? Wo ist doch der Mensch / dem alles nach seinem Sinne geht? Nicht ich und nicht du und kein Mensch auf Erden kann alles nach seinem Sinn haben. Kein Mensch ist ohne Plage und Trübsal auf der Erde / kein einziger / er sei König oder Papst. Und was meinst du / wer ist wohl unter allen Menschen am besten daran? Sicherlich nur der / welcher gut und groß genug ist / für Gott etwas leiden zu können. Da klagen denn die Schwachen und Unmündigen / und derer sind viele: Sieh / dieser läßt sich's wohl sein / ist reich und groß und mächtig und steht überall obenan. Du aber schau nur mit festem Blick hin auf die Güter des Himmels / und du wirst klar sehen / daß alle Güter der Erde die eigentlichen / rechten Güter des Menschen nicht sein können. Sie sind ja so veränderlich und eher Plagen als Güter / indem sie ihre Besitzer wahrhaft plagen mit tausendfachem Fürchten und Sorgen. Das macht doch die Seligkeit des Menschen nicht aus / daß er an zeitlichen Gütern mehr habe / als er bedarf. Genug für ihn / wenn er so zwischen Not und Überfluß durchkommen kann. Recht betrachtet ist es doch ein Elend / auf Erden zu leben. Und gerade für den / der mehr nach dem heiligen Gesetze seines Geistes leben will / gerade für den hat dieses Leben auch mehr Bitterkeit als für andere / denn er empfindet es besser als andere und sieht es heller ein / was für ein schwaches und gebrechliches Ding es um einen Menschen in diesem Leben ist. Essen / trinken / wachen / schlafen / ruhen / arbeiten und den übrigen Bedürfnissen der körperlichen Natur hingegeben sein: das ist doch alles nur Plage / und keine geringe Plage für einen Menschen / der den Umgang mit Gott bereits gekostet hat und nun gern unabhängig von allem Druck der Natur und rein von aller Sünde sein möchte.

Wahrhaftig / die Bedürfnisse des Leibes drücken in diesem Leben den innern Menschen / und der Druck ist groß. Darum bat der Prophet / der von all seiner Angst und Not gern frei gewesen wäre: Herr / rette du mich von meinen Nöten. Aber wehe denen / die ihr Elend nicht einmal erkennen / und zweimal wehe denen / die dieses elende und gebrechliche Leben noch lieben können! Es fehlt nicht an Leuten / die / obgleich sie nur den notdürftigsten Unterhalt und diesen kaum durch Handarbeit oder mit dem Bettelstab erobern können / doch mit ihrem ganzen Herzen so fest an diesem Leben hängen / daß sie auf Gottes Reich gern Verzicht leisten würden / wenn sie nur ewig hier bleiben dürften.

O des Unsinns! O des Unglaubens! So tief / so tief kann ein Mensch in den Schlamm der Erde versinken / daß er nur mehr für das Irdische Sinn und Empfindung behält! Am Ende aber wird es den Unseligen wohl noch schwer auf die Seele fallen / wie gar so niedrig und nichtig all das war / was sie geliebt haben. Ganz anders die Heiligen Gottes und alle andächtigen Freunde Jesu! Sie sahen nicht auf das, was dem Fleische schmeichelte / noch was in ihrem Zeitalter glänzte / sondern all ihr Hoffen und Trachten war aufwärts gerichtet zu dem / was gut ist und gut bleibt ewig. Ja / aufwärts gen Himmel / zu dem bleibenden und unsichtbaren Gut des Menschen flog all ihr Verlangen / damit sie nicht etwa von der Liebe zu dem / was sichtbar und vergänglich ist / möchten ergriffen und zur Erde herabgezogen werden.

Lieber Bruder / nichts / nichts soll dir die Zuversicht aus dem Herzen stehlen können / daß auch du in dem wahren Leben des Geistes noch weiterkommen wirst. Noch ist Zeit und Stunde da. Aber warum immer so gezögert und das Wichtigste von heut auf morgen verschobene Steh auf und fang in diesem Augenblick an und sprich zu dir: Jetzt ist es Zeit zum Arbeiten / Zeit zum Streiten / jetzt hat die Stunde geschlagen zu meiner Besserung! Ist dir nicht wohl zumute und kommt eine Plage über dich: nun / das ist für dich eben die rechte Zeit / dich eines bessern / seligen Lebens würdig zu machen. Du mußt zuvor noch durch Feuer und Wasser hindurchdringen / ehe du deinen Fuß in das Land der Erquickung wirst setzen können. Und wenn du nicht mit Gewalt dir selbst Widerstand tust / so wirst du deine Sünde nie besiegen. So lange wir in diesem gebrechlichen Leibe wohnen / können wir leider nicht ohne Sünde / nicht ohne Plage und Überdruß durchkommen. Wer möchte nicht gern frei von allem Elend sein? Aber nachdem die Unschuld durch die Sünde verloren gegangen ist / so ist nun auch die wahre Seligkeit für uns dahin / und es bleibt uns nichts andres übrig / als Geduld zu haben mit uns selbst und auf die Erbarmungen Gottes zu warten / bis das Reich der Sünde zerstört / bis selbst die Sterblichkeit vom Leben verschlungen sein wird.

Wie ist doch die Gebrechlichkeit des Menschen so groß / wie übermächtig sein Hang zur Sünde! Heute bekennst du deine Sünde / und morgen begehst du wieder die nämliche Sünde / die du heut bekannt hast. Jetzt fassest du den Vorsatz / vor aller Sünde dich zu hüten / und nach einer Stunde handelst du so / als wenn nie ein Vorsatz in deine Seele gekommen wäre. Wir haben also Ursache genug / demütig zu sein und uns selbst für gering zu halten / weil wir gar zu gebrechlich und wandelbar sind. Es kann auch durch Nachlässigkeit schnell wieder zugrunde gerichtet werden / was Gnade und Treue mit saurem Schweiß noch kaum aufgebaut haben.

Was wird am Abend unseres Lebens noch aus uns werden / nachdem wir schon am Morgen alles Feuer auf unserm Herde haben ausgehen lassen? Weh uns / wenn wir schon so früh die Waffen weglegen und uns zur Ruhe begeben wollen / als wenn schon Friede und Sicherheit im Lande wäre / da wir doch noch keine einzige Spur der Heiligkeit auf unserm Lebensweg hinterlassen haben! Es wäre wohl nötig / daß wir wieder von vorn anfingen und inmitten der Anfänger von neuem zu einem heiligen Leben uns unterweisen ließen. Vielleicht möchte es geschehen / daß wir unsere Fehler besserten und im Guten weiter vorankämen.


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