Thomas von Kempen
Nachfolge Christi
Thomas von Kempen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Von der Würde und Erhabenheit des freien Gemütes / das nicht so sehr durch angestrengtes Lesen und Denken als vielmehr durch Gebet und Tat errungen wird.

Gott / nur der vollkommene Mann / der den Kampf mit sich selbst vollendet hat / kann sein Gemüt immer festhalten in der Betrachtung himmlischer Dinge und inmitten vieler Sorgen / die ihn umgeben / gleichsam ohne Sorge hindurchwandeln; nicht etwa weil er träge und ohne Gefühl ist / sondern weil er ein freies Gemüt hat / und dies freie Gemüt keiner ungeordneten Neigung sich gefangen gibt.

Ich flehe zu dir / o mein Gott / du allerheiligstes Wesen / bewahre du mein Herz / daß es von Sorgen dieses Lebens nicht gebunden / von Bedürfnissen des Leibes nicht gefesselt / von Lüsten des Fleisches nicht hingerissen / von Plagen der Zeit nicht niedergeschlagen und von unzähligen Hindernissen der Tugend nicht überwunden werde. Zwar haben für mich die Dinge / nach denen die Eitelkeit der Welt sich müde läuft / keinen sonderlichen Reiz mehr. Was aber mich zurückschlägt / daß ich nicht zur Freiheit des Geistes / so oft ich gern wollte / mich aufschwingen kann / das ist das allgemeine Elend / das / mit dem sterblichen Leib verbunden nach dem Fluche / den die Sünde in die Welt gebracht hat / die Seele deines Dieners niederdrückt und hart beschwert.

O mein Gott / du unaussprechliche Süßigkeit / verwandle alle sinnliche Lust / die durch den trügerischen Zauber einer flüchtigen Freude mich zu sich hin und von den ewigen Gütern mich hinweg lockt / verwandle mir all diese Lust in Bitterkeit! Zu dir / mein Gott / flehe ich / nicht mehr soll mich Fleisch und Blut überwinden / nicht mehr soll die Welt mit ihrer kurzen Herrlichkeit mich blenden / nicht mehr soll die Hölle mit ihrer List mich hintergehen. Gib mir Kraft / die widerstehen / Geduld / die tragen / Beharrlichkeit / die bis ans Ende aushalten kann. Laß mich statt aller Freuden der Erde die Salbung deines Geistes erfahren / die an innerer Lieblichkeit alles Liebliche übertrifft. Laß statt aller Lust des Fleisches die heilige Liebe deines Namens mein Herz durchglühen.

Speise / Trank / Kleidung und was noch zur Erhaltung des Leibes gehört / ist für einen Geist / der nur für das Ewige leben möchte / doch nur eitel Last und Plage. Lehre mich / all diese unentbehrlichen Erhaltungsmittel des sterblichen Lebens mäßig zu gebrauchen und die Begierde zu zähmen / daß sie nicht in Dinge / die nichts taugen / sich verwickele. Man darf auf einer Seite nicht alles wegwerfen  / weil die Natur doch gepflegt sein muß / und soll auf der andern Seite nach dem heiligen Gesetze nichts genießen / was zur Pflege des Leibes überflüssig und bloß zur Lust ist / weil sonst das Fleisch sogleich wider den Geist sich empört. Deine Hand / o Gott / leite und führe mich auch in dieser Sache / daß ich auf keiner Seite zuviel tue.


 << zurück weiter >>