Thomas von Kempen
Nachfolge Christi
Thomas von Kempen

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Dreiundvierzigstes Kapitel.

Warnung vor der eitlen / falschen Gelehrsamkeit.

Lieber Sohn / laß die schönen / feinen Sprüche der Menschen deinen geraden Sinn nicht verrücken / denn das Reich Gottes besteht nicht in Wort und Schall / sondern in Kraft und Tat. Merke du auf mein Wort / das die kalten Herzen entzündet / die finstern Geister erleuchtet / die harten Gemüter in Tränen der Reue auflöst und die müden / beladenen Seelen mit himmlischen Tröstungen salbt. Lies aber in meinen Worten nicht / um dir den eitlen Anstrich geben zu können / als wenn du gelehrter oder weiser wärest als andere. Alles / was Sünde in dir ist / zu töten / das sei deine Gelehrsamkeit. Denn das nützt dir mehr / alswenn du all die spitzfindigen Fragen der Gelehrten nach der Länge und Breite inne hättest.

Wenn du wirklich viel liesest und viel verstehst / so mußt du all dein Lesen und all dein Verstehn jedesmal zur einen Quelle aller Wahrheit zurückführen. Ich bin es / der den Menschen Weisheit lehrt und dem Unmündigen hellere Einsichten gibt / als Menschen von Menschen je erhalten können. Zu wem ich rede / der wird bald weise sein und im Geiste große Fortschritte machen. Wehe denen / die so gern zu ihresgleichen in die Schule gehn / um ihre Neugier zu befriedigen / und um den rechten Weg / mir zu dienen / keine Nachfrage halten. Kommen wird die Zeit / wo Christus / der Lehrer aller Lehrer und der Herr der Engel / sich offenbaren wird. Da wird jeder / was er gelesen hat / ihm aufsagen müssen / das heißt / Christus wird die geheimsten Winkel des Gewissens in jedem Menschen durchforschen / wird Jerusalem mit Licht durchsuchen. Dann wird alles / was im Finstern verborgen war / hell werden / dann werden alle Menschenzungen mit ihrem unendlichen Für und Wider verstummen müssen.

Ich bin es / der den Demütigen in einem Augenblick so hoch erheben kann / daß er in die ewige Wahrheit tiefer hineinschaut / als wenn er zehn Jahre in Schulen geschwitzt hätte. Wo ich lehre / da rauschen keine Worte / da durchkreuzen einander keine Meinungen / da bläht sich keine Eitelkeit / da fechten keine Schulgründe. Ich bin es / der den Menschen lehrt / das Vergängliche zu verschmähen und das Unvergängliche hochzuachten / Ekel über das Gegenwärtige und Geschmack am Ewigen zu haben / Ehre zu fliehen und Ärgernis zu erdulden / außer mir nichts zu verlangen / auf mich allein alle Hoffnung zu bauen und mich über alles mit Inbrunst des Herzens zu lieben.

Ich habe einen Freund / dieser liebte mich innigst und lernte durch diese innige Liebe göttliche Dinge verstehen und die Wunder meiner Führungen auslegen. Alles verlassen brachte in der rechten Erkenntnis ihn viel weiter als das tiefste Forschen. Zu einem rede ich von gemeinsamen / zum andern von besonderen Dingen. Einigen erscheine ich in Zeichen und Bildern / andern decke ich in hellem Licht Geheimnisse auf. Im Grunde haben zwar alle heiligen Bücher eine und dieselbe Stimme / aber diese eine Stimme ist nicht gleich unterweisend für alle / weil ich der eigentliche Lehrer unter der Hülle des Buchstabens / ich im Innern des Menschen die rechte Wahrheit bin / ich die Herzen erforsche / ich die Gedanken sehe / ich die guten Handlungen fördere / ich die Gaben spende und jedem in dem Maße spende / wie sie eines jeden Fähigkeit und Bedürfnis erheischt.


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