Thomas von Kempen
Nachfolge Christi
Thomas von Kempen

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Vierundfünfzigstes Kapitel.

Natur und Gnade in ihren entgegengesetzten Richtungen und Bewegungen.

Mein Sohn / habe fleißig acht auf die Bewegungen der Natur und der Gnade; denn sie laufen einander schnurstracks entgegen und sind doch so fein / daß auch das geistliche / erleuchtete Auge des innigsten Menschen kaum sie unterscheiden kann. Wir haben zwar alle ein Verlangen nach etwas / das wir für gut halten / jedermann macht etwas Gutes zum Vorwand für seine Reden und Handlungen / aber der Schein des Guten trügt nur zu viele.

Die Natur ist schalkhaft / lockt / überlistet und bringt viele in ihre Fallstricke und hat allemal sich selbst zum Zweck; die Gnade ist einfältig und gerade in Sinn und Wandel / meidet allen Schein des Bösen / weiß nichts von Trug und Hinterlist und tut alles nur um Gottes willen / der auch ihr Ruhepunkt ist / außer dem sie nichts mehr verlangt.

Die Natur will nicht darangehen / sich selbst abzusterben / scheut allen Druck und alle Überlegenheit / weiß nichts von Gehorsam und freiwilliger Unterwürfigkeit; die Gnade treibt zur Selbstüberwindung / widersteht der Sinnlichkeit / liebt Unterwürfigkeit / kann jeden über sich leiden / eifert nicht nach freier Lebensweise / lebt gern unter Zucht und Ordnung / kennt keine Herrschsucht / will in all ihrem Wesen / Sein und Tun von Gottes Wink und Einfluß abhängig und um Gottes willen auch jedem Menschen in Demut untertänig sein.

Die Natur arbeitet immer nur zu ihrem eigenen Vorteil und sieht scharf darauf / was ihr dieses oder jenes für Zinsen abwerfe; die Gnade sieht nicht auf das / was ihr vorteilhaft und bequem / sondern auf das / was andern heilsam ist.

Die Natur nimmt gern Ehrenbezeugung und Weihrauch an / die Gnade stellt alle Ehre und allen Ruhm treu ihrem Gott anheim.

Die Natur bebt zurück vor allem / was vor Menschen Schande und Verachtung bringt; die Gnade freut sich / um des Namens Jesu willen Schmach zu leiden.

Die Natur hat es gern / wenn sie müßiggehen und körperliche Ruhe genießen kann; die Gnade kann nicht müßig sein und schafft immer Trieb und Lust zur Arbeit.

Die Natur strebt nach dem / was die Neugierde lockt und die Sinne durch den Zauber des Schönen reizt / und hat Abscheu vor dem / was die Sinne schlecht und rauh finden; die Gnade lustwandelt gern mit Einfältigen und Demütigen / findet nichts zu rauh und macht sich nichts daraus / ein abgenutztes Kleid am Leib zu tragen.

Die Natur blickt auf das Vergängliche / macht ein heiteres Gesicht bei einem irdischen Gewinnst und ein finsteres bei einem zeitlichen Verlust / ein unbedeutendes Schmähwort kann sie verbittern; die Gnade sieht auf das Ewige / klebt nicht am Vergänglichen / kennt keine Verwirrung bei einem zeitlichen Verlust und keine Verbitterung bei einer öffentlichen Beschimpfung / weil sie ihren Schatz und ihre Freude im Himmel / wo nichts verloren geht, sichergestellt hat.

Die Natur ist habsüchtig / hat mehr Freude daran zu empfangen / als zu geben / liebt eigenes Gut und will alles zu eigen haben; die Gnade ist fromm und gemeinsinnig / meidet alles Besondere / begnügt sich mit wenigem und hält Geben für seliger denn Nehmen.

Die Natur treibt zu erschaffenen Dingen / neigt zu Fleisch und Blut / zur Eitelkeit und zum törichten Umherlaufen; die Gnade zieht zu Gott und zur Tugend hin / entsagt dem Geschöpf / flieht die Welt / haßt Fleischeslust / schränkt Umgang und Gesellschaft ein und errötet / wenn sie vor andern sich muß sehen lassen.

Die Natur hat gern äußere Tröstungen / die den Sinnen Freude machen; die Gnade spricht zu Gott: Nur du bist mein Trost / und zum höchsten Gut: Du bist mir lieber als alles / was sichtbar ist.

Die Natur tut alles aus Gewinn- und Selbstsucht / kann nichts umsonst tun / sucht durch Wohltun das Gleiche oder etwas Besseres oder Lob oder Gunst dafür einzuernten / und sieht es gern / wenn man ihre Handlungen und Geschenke wichtig findet; die Gnade sucht kein vergängliches Gut / sucht keinen Lohn als Gott allein und verlangt selbst den notdürftigen Lebensunterhalt nur insofern / als er ein Mittel werden kann / ewige Güter zu erobern.

Die Natur hat Freude daran / viele Freunde und Verwandte zu zählen / hält vieles sich zugute auf adelige Abkunft und einen berühmten Geburtsort / lächelt den Mächtigen Beifall zu / schmeichelt den Reichen und gibt Beifall ihresgleichen; die Gnade liebt auch die Feinde und brüstet sich nicht vieler Freunde wegen / achtet Herkunft und Geburt / wenn nicht edlere Tugend dabei ist / für nichts Großes / hält es mehr mit den Dürftigen als mit den Reichen / will lieber mit dem Unschuldigen leiden / als mit dem Mächtigen Freude haben / freut sich mit Freunden der Wahrheit und nicht mit falschen Brüdern der Lüge / ermuntert die Guten zum schönen Wetteifer / immer besser und dem Sohne Gottes durch Tugend ähnlicher zu werden.

Die Natur bricht über jeden Mangel und noch so geringe Lasten in laute Klagen aus; die Gnade kann Mangel und Last mit unbewegtem Mut ertragen.

Die Natur lenkt alles auf sich zurück / kämpft mit Mund und Faust für sich; die Gnade führt alle Dinge auf Gott als die Urquelle aller Dinge zurück / schreibt sich nichts Gutes zu / kennt keine stolze Anmaßung / zankt nicht / hält ihre Meinung nicht für besser als fremde Meinungen / sondern unterwirft sich in allem / was sie denkt und empfindet / der ewigen Weisheit und dem Ausspruche des göttlichen Richters.

Die Natur forscht nach Geheimnissen und hascht nach Neuigkeiten / will von außen glänzen und durch die Sinne Erfahrungen einsammeln / will gekannt sein und glänzende Taten verrichten / die Lob und Bewunderung schaffen; die Gnade / unbekümmert um alles / was durch Neuheit die Neugier reizt / vergißt es nicht / daß all das Neue Beweis des alten Verderbens ist / daß es im Grunde nichts Neues und nichts Dauerhaftes unter der Sonne gibt.

Das ist also die Summe und der Kern alles dessen / was uns die Gnade lehrt: die Sinne zu bezähmen / das eitle Wohlgefallen zu verschmähen / sich selbst nicht zur Schau zu tragen / vielmehr alles / was des Lobes oder der Bewunderung wert sein mag / mit dem Schleier der Demut zu bedecken und in allen Dingen und in allen Wissenschaften nichts anderes zu suchen / als daß Gott dadurch in allem gelobt und verherrlicht und daß der sinkenden Menschheit unter die Arme gegriffen werde. Die Gnade will nicht sich oder ihre Vorzüge gerühmt wissen / Gott möchte sie in allen seinen Gaben verherrlicht sehen / Gott / der alles Gute aus der lautersten Liebe gibt.

Diese Gnade kann nicht das Werk der Natur sein / sie ist ein Licht / höher als alles Licht der Natur / ist eine besondere Gabe Gottes / ist das eigentliche Siegel der Auserwählten / ist das rechte Unterpfand des ewigen Heils / hebt den Menschen über ihn und über alles Irdische / daß er das Himmlische lieben kann / und schafft aus dem sinnlichen Menschen einen geistlichen. Eben deswegen wird sie / diese Gnade / dem Menschen desto reichlicher mitgeteilt / je mehr er die sinnliche Natur beherrscht und besiegt. Täglich erhält alsdann der innere Mensch neue Zuflüsse dieser Gnade / wodurch das Ebenbild Gottes in ihm eine herrlichere Gestalt gewinnt und nach dem heiligen Vorbild erneuert wird.


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