Thomas von Kempen
Nachfolge Christi
Thomas von Kempen

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Zweiunddreißigstes Kapitel.

Verleugne dich selbst und widersteh aller ungeordneten Begierde.

Mein Sohn / die vollkommene Freiheit des Geistes kannst du nicht erringen und nicht behalten / wenn du nicht zur vollkommenen Verleugnung deiner selbst dich hindurcharbeitest. Sklavenfesseln tragen alle / die eigensüchtig an irgendeinem Ding hängen / die sich selbst lieben / die lüstern und neugierig außer sich umherschwärmen / die nur suchen / was ihren Sinnen schmeichelt / und nicht / was das Reich Christi erweitert / die immer das bauen und befestigen wollen / was keinen Grund und Bestand haben kann; denn zu nichts wird alles / was nicht aus Gott geboren ist. Halte dich an das kurze / aber alles sagende Wort: Verlaß alles / dann findest du alles / entlaß die Begierde / dann kommt die Ruhe dir entgegen. Dies Wort laß dir nie aus dem Sinn kommen / dies Wort durchforsche Tag und Nacht / und wenn du dieses Wort in Erfüllung gebracht haben wirst / dann wirst du alles verstehen.

Mein Herr / das ist keine Arbeit für einen Tag und kein Spiel für Kinder. In dieser Schale liegt ja der ganze Kern der Vollkommenheit für alle / die Gott / den Herrn / suchen.

Mein Sohn / das soll dich nicht zurückschrecken noch mutlos machen / wenn du von dem Wege der Vollkommenheit reden hörst / es soll dich vielmehr reizen / nach dem höheren Ziel emporzuklimmen oder wenigstens ein herzliches Sehnen nach diesem Ziel in dir zu unterhalten. O daß es doch so gut mit dir stünde / daß du doch schon so weit gekommen wärest / daß du / frei von der blinden Liebe zu dir selbst / bereit stündest und gefaßt auf meinen Wink und auf den Wink meines Vaters / den ich dir geoffenbart habe: Dann / dann könnte mein Auge mit Wohlgefallen auf dir ruhen / dann würde dein ganzes Leben in Friede und Freude vorübergehen. Aber / lieber Sohn / du hast in dir noch viel / viel zu verleugnen / und wenn du dieses Viele nicht verleugnest / wenn du nicht alles ganz mir allein anheimstellst / so wirst du nicht finden / was du suchst. Laß meinen Rat dir heilig sein: Kauf dir von mir ein geläutertes Gold / das dich reich mache / das ist die himmlische Weisheit / die alles Irdische mit Füßen tritt. Gib alle irdische Weisheit / alle menschliche Selbstgefälligkeit daran.

Ich wollte sagen: Du sollst das / was im Auge der Menschen hoch und kostbar ist / darangeben und etwas / das im Auge der Menschen schlecht und niedrig ist / dafür erkaufen. Denn unbedeutend und schlecht in den Augen der meisten Menschen und fast ganz aus ihrem Erinnern gerückt ist die wahre / himmlische Weisheit / die gering von sich denkt und auf Erden nicht groß scheinen / nicht groß heißen will / eine Weisheit / die viele mit ihrer Zunge rühmen / aber mit ihrem widersprechenden Wandel lästern / die aber ungeachtet die kostbarste Perle ist / verborgen vor den Augen der Menschen.


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