Thomas von Kempen
Nachfolge Christi
Thomas von Kempen

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Einundzwanzigstes Kapitel.

Gott allein sei unser höchstes Gut!

Erhebe dich / meine Seele / über alle Dinge / und suche deine Ruhe nur im Herrn / und du wirst sie in ihm allein finden; denn er ist die ewige Ruhe aller Heiligen. Gib mir also / o du / die Liebe selbst und die Fülle aller Süßigkeit / Jesus Christus / unser Herr / gib mir Kraft / daß ich mich erhebe über alles Erschaffene / über alle Schönheit und Reize / über alles Heil und allen Segen / über alle Ehre und Herrlichkeit / über alle Macht und Hoheit / über alle Wissenschaft und Scharfsinnigkeit / über alle Reichtümer und Künste / über alle Freude und Entzückung / über alles Lob und Jubelgeschrei / über alle Süßigkeit und Erquickung / über alle Verheißung und Hoffnung / über alle Verdienste und Wünsche / über alle Gaben und Geschenke / die du mitteilen kannst / über alle Himmelslust und Seligkeit / die die Seele fassen und genießen kann / über alle Engel und Erzengel / über alle Heere des Himmels / über alles Sichtbare und Unsichtbare; gib mir Kraft / daß ich mich erhebe über alles / was du / mein Gott / nicht bist / und über alles / was du nicht bist / erhaben / in dir allein Ruhe suche und Ruhe finde.

In dir allein / o du mein Herr und Gott / kann ich Ruhe finden / weil du das beste / du das höchste / du das mächtigste / du das selbstgenügsamste und reichste / du das lieblichste Wesen und die Fülle des Trostes für alle anderen Wesen / du die Schönheit und die Liebe / du die Heiligkeit und die Herrlichkeit selber bist. In dir allein ist alles Gute auf das vollkommenste vereinigt / in dir wird immer alles Gute auf das vollkommenste vereinigt bleiben. Was immer also du mir schenkst / oder von dir offenbarst oder verheißest / so groß und wahr und gut es immer sein mag / so ist es doch noch viel zu gering für mein Herz / solange du dich selbst mir nicht schenkst / dich selbst mir nicht zu sehen und zu genießen gibst. Denn dies mein Herz hast du viel zu groß geschaffen / als daß es zur vollen Stillung seines Hungers gelangen könnte / ehe es nicht über alle Geschöpfe und über alle deine Gaben empor sich geschwungen und in dir allein seine ganze Ruhe und Seligkeit gesucht und gefunden hat.

O du mein liebster Bräutigam / Jesus Christus / du heiligster Freund unsterblicher Seelen / du Gebieter und Beherrscher aller Geschöpfe / wer gibt mir die Flügel der wahren Freiheit / daß ich auffliege zu dir / daß ich Ruhe und Seligkeit in dir finden möge? O wann wird es mir gegeben werden  / von allem / was mich bindet und hemmt / frei zu sein und zu schauen und zu erfahren / wie süß es sei / dich / meinen Gott / zu genießen? Wann werde ich mein ganzes Wesen in dir allein sammeln und in Liebe zu dir meiner selbst vergessen und nichts als dich / dich empfinden und genießen können / dich genießen auf eine Weise / die die wenigsten kennen und die alle gewöhnlichen Weisen und Empfindungen übersteigt? Jetzt ist Seufzen mein Los / und mein Elend im Gefühl des Schmerzes tragen müssen / das ist mein Tagewerk. überall begegnet mir in diesem Tal des Jammers Jammer genug / Übel genug / die mein Herz verwirren / betrüben und verfinstern / hindern und zerstreun / locken und gefangen nehmen / daß ich nicht freien Zutritt zu dir finden / nicht deine freundlichen Umarmungen genießen / nicht immer im Chor der seligen Geister mitsingen kann. Möchte dein Herz dir brechen / wenn du mein Seufzen hörst und mich auf Erden trostlos und mit mancherlei Kummer beladen umherirren siehst.

Jesus / du Abglanz der ewigen Herrlichkeit / du Trostquelle für alle Seelen im Pilgergewande / meine Zunge findet kein Wort vor dir / und nur mein Schweigen redet zu dir! Wie lange zögert noch die Ankunft meines Herrn? Ach / daß er käme zu seinem Armen und froh machte den Traurigen / daß er ausstreckte seine Hand und herausrisse aus all seiner Angst den Geängsteten! Komm / komm doch bald ; denn ohne dich geht für mich kein Freudentag mehr auf / ohne dich schlägt keine frohe Stunde mehr für mich / denn du bist meine Freude / und leer ist ohne dich mein Tisch. Elend bin ich / bin wie eingekerkert und mit Fesseln gebunden / bis mich das Licht deiner Gegenwart erquickt / deine Wahrheit mich frei macht / dein freundliches Angesicht den Himmel in meine Seele bringt.

Mögen andere ihr Paradies suchen / wo sie wollen / mir gefällt nichts mehr und kann nichts mehr gefallen als du / mein Gott / meine Zuversicht / mein ewiges Heil. Nimmer schweigen / nimmer aufhören zu bitten will ich / bis deine Gnade wiederkommt / bis deine Stimme wieder in mir spricht: Sieh / da bin ich. Ich komme zu dir / weil du mich gerufen hast. Die Zähre deines Auges und das Sehnen deines Herzens / die Demut und Zerschlagenheit deines Geistes neigten mein Herz und führten mich zu dir hinab!

Und ich sprach: Ja / ich habe dich gerufen / ich habe mich gesehnt / deiner zu genießen / entschlossen / alles um deinetwillen zu verschmähen. Aber du hast mich zuvor geweckt / daß ich dich mit Inbrunst suchte. Dir sei also Lob und Dank / daß du nach der Fülle deiner Erbarmungen an deinem Knechte so viele Gnaden bewiesen hast. Was darf ich noch sagen vor dir? Dein Knecht hat kein anderes Wort mehr als: Noch tiefer möchte ich mich vor dir erniedrigen / nie werde ich vergessen können / wie gering und böse ich bin / unter allen Wundern im Himmel und auf Erden ist keines so groß wie du selbst. Gut sind alle deine Werke / heilig deine Gerichte / allumfassend deine Führungen / denn deine Vorsehung regiert alle Dinge. Dir also / Weisheit des Vaters / dir sei Lob und Ruhm! Dich preise und lobe mein Mund und meine Seele / und alle Geschöpfe mögen zugleich in meinen Lobgesang einfallen!


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