Thomas von Kempen
Nachfolge Christi
Thomas von Kempen

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Einunddreißigstes Kapitel.

Daß man alle Geschöpfe verlassen muß, um ihn, den Schöpfer, zu finden

Gnade und noch größere Gnade habe ich nötig, o Herr, wenn ich dahin kommen soll, wo mich im Umgang mit dir kein Geschöpf mehr wird hindern können. Denn so lange noch irgendein Geschöpf mich bindet / so lange kann ich nicht frei zu dir auffliegen. Freien Flug zu dir wünschte sich der / welcher sprach: Wer gibt mir Taubenflügel? Dann will ich fliegen und Ruhe finden. Was ist ruhiger als ein einfältiges Auge? Was ist freier als ein Herz / das von allen Dingen der Erde nichts mehr verlangt? Wer also diese Ruhe und Freiheit erringen will / der muß über alles Geschöpf sich erheben / muß von sich selbst vollkommen sich losmachen und feststehen in dieser Erhabenheit über alle Geschöpfe und über sich / und muß schauen und sehen / daß du / der Schöpfer aller Dinge / unvergleichbar höher und herrlicher bist als alle deine Geschöpfe. Und wer noch nicht von allen Geschöpfen sich losgemacht hat / der kann nicht mit freiem Blick betrachten und schauen / was göttlich ist. Eben deswegen kommen so wenige Menschen zu dieser himmlischen Anschauung / weil so wenige von dem Vergänglichen / von allen Geschöpfen vollkommen sich losmachen können.

Und dazu / zur vollen Abgeschiedenheit von allem Vergänglichen / bedarfst du einer großen Gnade / die den Geist zuerst hebt und dann über ihn selbst erhebt. Und hat der Mensch diese Geisteshöhe noch nicht erreicht / ist er noch nicht von allen Geschöpfen frei und los und mit Gott eins geworden / so hat alles / was er weiß / und alles / was er besitzt / kein sonderlich großes Gewicht. Wer noch etwas anderes hochschätzt als das eine / das unermeßliche / ewige Gut / wird immer kleinlich in seinen Gedanken und Absichten und tief unten liegen bleiben. Denn alles / was nicht Gott ist / alles das ist nichts und muß für nichts gehalten werden. Es ist aber zwischen der Weisheit einer erleuchteten und gottgeweihten Seele und zwischen der Wissenschaft eines gelehrten und in den Büchern erfahrenen Geistlichen ein himmelweiter Unterschied. Die Weisheit / die durch göttliche Einflüsse von oben kommt / ist viel edler als die Wissenschaft / welche der menschliche Kopf durch mühsames Forschen sich selbst schafft.

Man findet viele Menschen / die sich die Gabe der Beschaulichkeit wünschen / aber auf dem rauhen Wege / der dahin führt / mögen sie sich nicht üben lassen. Auch dies ist ein großes Hindernis / daß sie so fest an Zeichen / Buchstaben und sinnlichen Dingen hängen und das Werk der vollkommenen Selbstverleugnung so nachlässig treiben. Ich weiß nicht recht / was für ein Geist eigentlich uns treibt / und was wir im Grunde wollen. Wir hätten es gern / daß man für geistreiche Männer uns ansähe / und doch wenden wir so viel Mühe und Sorgen auf vergängliche / schlechte Dinge und erforschen so selten in völliger Sammlung des Geistes unser Innerstes.

Und wenn wir auch auf eine kurze Zeit uns in uns gesammelt haben / so werden wir bald wieder hinausgeworfen in die äußern Dinge / und unsere Handlungen werden nicht mehr so strenge vor dem Richterstuhl unseres Gewissens untersucht. Wir achten nicht dessen / wie unsere Neigungen überall nur auf der Erde kriechen / und beweinen das Elend nicht / daß alles / was die Menschen tun / so unrein ist wie ihre Neigungen. Alles Fleisch hatte einst seinen Weg verdorben / und eben deswegen mußte die große / strafende Flut über das Geschlecht der Menschen hereinbrechen. Da nun unsre Neigung durch und durch verdorben und befleckt ist / so muß alles / was wir nach dem Trieb unsrer Neigung tun / auch verdorben und befleckt sein / muß die Spur der zerrütteten innern Kraft an sich tragen. Das gute Leben ist eine Frucht / die nur aus dem reinen Herzen hervorwächst.

Man fragt zwar hie und da / was und wieviel ein Mensch getan habe / aber wie groß und rein die innere Tugendkraft sei / das wird nicht so fleißig in Erwägung gezogen. Ob einer stark / reich / schön / geschickt / ein guter Schriftsteller / ein geschickter Sänger / ein berühmter Künstler sei / danach fragen die Leute. Ob aber einer die rechte Armut des Geistes besitze / geduldig / sanftmütig / andächtig und in das geheime / gottselige Leben des Geistes eingeweiht sei / darüber wird nicht viel Nachfrage gehalten. Wo die Natur des Menschen sich selbst überlassen ist / da sieht er nur auf das Äußere an sich und anderen Menschen / wo aber die Gnade Gottes im Herzen wohnt / da kehrt der Blick sich einwärts und erforscht das Innere. Die Natur tut auch sehr viele Fehlgriffe in ihren Urteilen / die Gnade aber hält sich mit Zuversicht an Gott / damit sie vor Fehlgriffen bewahrt werden möge.


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