Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Drittes Kapitel.

Der Tag fing an zu grauen. Jetzt spähten aller Blicke durch die weichenden Schleier der Nacht, um die Feinde zu zählen, die sich vor die Pforten der Rettung gelagert hatten. Rasinski war mit Boleslaw, durch Buschwerk gedeckt, eine kleine Anhöhe hinangeritten, von der er den Lauf des Stroms und die Krümmung seiner Ufer weit überschauen konnte. Noch schimmerten die Flammen der russischen Wachtfeuer mattrötlich durch die Morgennebel und das bläulich dämmernde Licht des Tages. Doch war alles still auf den beschneiten Höhen.

»Mir deucht,« sprach Rasinski, »man müßte doch schon die Leute sich bewegen sehen; oder sollten sie sich etwas hinter den Rand der Anhöhen gezogen haben?« – »Soweit ich erkennen kann, sind die Wachtfeuer verlassen,« antwortete Boleslaw; »wenigstens die vordern. Dort hinten am Waldsaum mögen sie wohl besetzt sein.« – »Sie werden sich,« erwiderte Rasinski, »dem Feuer unserer Artillerie nicht so nahe haben aussetzen wollen; doch wundert mich's, daß ich nirgends Kanonen aufgefahren sehe.«

Sie ritten noch einige hundert Schritt weiter, auf die Spitze eines Hügels, der sich näher gegen den Fluß zog; indessen verwehte der Wind die nebeligen Dünste, und es wurde allgemach heller. »Bei Gott!« rief Rasinski, der mit steigender Verwunderung umherblickte, »die jenseitigen Ufer sind verlassen! Dahinter muß irgendeine Absicht stecken. Man will uns vielleicht den Übergang beginnen lassen, um dann eine desto furchtbarere Verheerung unter uns anzurichten.« – »Vielleicht bleibt uns wenigstens so viel Zeit, um die Brücke zu bauen«, meinte Boleslaw und deutete auf den Strom, wo man jetzt die Arbeiter in voller Geschäftigkeit erkennen konnte. – »Auf den Hügeln dort rechts,« bemerkte Rasinsti, »sehe ich Reiter; sie scheinen mir ebenfalls zu rekognoszieren. Laß uns dort hinüber, man muß von jenem Hügel die Windung des Stroms tiefer hinabsehen können.«

Sie ritten auf den bezeichneten Punkt zu und trafen daselbst den Marschall Ney, Regnard und einige andere Offiziere. Diese waren ebenso erstaunt als Rasinski, das jenseitige Ufer von Truppen entblößt zu finden. Plötzlich rief Regnard: »Dort drüben, nach Borisow zu, sehe ich Truppen im Marsch; es ist eine starke Kolonne. Rasinski, ihr habt ein Falkenauge, was meint ihr, ist das nicht russische Kavallerie?« Rasinski hielt die Hand über das Auge, weil die eben aufgehende Sonne schon zu blenden anfing, blickte scharf hin und rief dann: »Es ist Artillerie und Infanterie; ich sehe zwei Kolonnen; sie marschieren nach Borisow.«

»Sollte der Feind vielleicht abziehen?« rief der Marschall Ney mit dem Tone der Ungläubigteit. »Es ist unmöglich!« – »Aber es ist nicht mehr daran zu zweifeln«, fiel Rasinski ein. – »So leuchtet der Stern des Kaisers noch immer hell an seinem Himmel,« rief Ney mit einem flammenden Blick der Freude aus; »man muß ihn sogleich benachrichtigen.«

Alle sprengten hinunter gegen die Brücke zu, wo der Kaiser aufmunternd und antreibend bei den Arbeitern stand und auf die Berichte wartete. Jetzt trafen die zur Rekognoszierung ausgesandten Offiziere von allen Seiten ein. Niemand hatte eine Spur des Feindes entdeckt, mehrere die abziehenden Truppen bemerkt. »So wäre es doch gelungen, Tschitschagow zu täuschen!« rief der Kaiser aus. »Man muß einen Gefangenen zu bekommen suchen, der uns Gewißheit gibt.«

Rasinski erbot sich, einen herbeizuschaffen. Er sprengte sogleich mit Boleslaw den Strom aufwärts, nahm einige Chasseurs mit und schwamm mit ihnen durch den Fluß. Als sie die jenseitigen Höhen erreichten, bemerkten sie alle Spuren eines bedeutenden Korps, das die Nacht über hier gelagert haben mußte. Die Feuer brannten noch meist alle; man sah, daß sie erst seit einigen Stunden heimlich verlassen worden waren, und daß ihre Flamme den Kaiser täuschen sollte. Die Spuren des Wegs, welchen das russische Heer genommen hatte, auf dem Schnee bald zu erkennen; sie zogen sich südlich nach Borisow zu. Rasinski folgte ihnen rasch, aber mit Vorsicht; als er durch ein kleines Gehölz geritten war, sah er jenseit desselben einige zerstreute Kosaken; unvermutet überfiel er sie, sie flüchteten, doch einer stürzte auf dem glatten Schnee mit dem Pferde und fiel so in Rasinskis Hand, der sogleich mit dieser Beute umkehrte.

Unterwegs befragte er seinen Gefangenen aufs genaueste nach allen Umständen und erfuhr, daß in dieser Nacht der General Tschaplitz mit zehntausend Mann und dreißig Kanonen die Höhen, Studianka gegenüber, besetzt gehalten habe, aber auf Tschitschagows Befehl gegen Morgen über Borisow nach Beresino aufgebrochen sei. Sein Herz frohlockte, als er die Bestätigung dieser Vermutung erhielt, denn jetzt war die Rettung möglich, falls nur im Lauf dieses Tages der Übergang beginnen konnte. »Freue dich, Boleslaw,« rief er diesen an, »noch glänzt unsere Sonne. Heute hat die Göttin des Glücks gezeigt, daß sie den Kaiser noch nicht verlassen will. Dies sind die unbesetzten Engpässe von Zilizien; des Mazedoniers Stern strahlt nicht leuchtender als der des Korsen.« Ungeduldig, dem Kaiser diese Nachrichten zu bringen, spornte Rasinski sein Pferd an, setzte über den Strom und berichtete, was er gesehen und was er erkundet hatte.

Der Kaiser vernahm diese Botschaft mit zufriedenen Blicken, aber doch ebenso ruhig, als er gestern die Berichte über die drohendsten Gefahren anhörte. Er gab sogleich Befehle, den Bau der Brücke aufs äußerste zu beschleunigen. Mit diesem war man endlich so weit gekommen, daß zwei Böcke aufgestellt und durch Bohlen verbunden waren; nun mußte das Werk sich rasch fördern, und der General Eblé versprach, es bis Mittag zu vollenden.

Indessen zogen sich auch bereits Truppenmassen von allen Seiten heran. Studianka selbst war mit Kanonen, Pulverwagen, Trainfuhrwerken, der Bagage des Kaisers, der Marschälle und anderer Offiziere überfüllt; ebenso die Wege, welche nach dem Örtchen hinunterführten, und die Höhen, die es rings umgaben. Rasinski sah mit bedenklichen Blicken diese ordnungslose Häufung der Massen, welche nur aus dem Zustande der Auflösung, in dem sich das Heer befand, erklärt werden konnte. Jetzt noch eine Aufstellung, eine Anordnung zu bewirken, schien unmöglich, zumal da Menschen und Pferde, aufs äußerste entkräftet, diesen kurzen Zustand nutzten, soviel die Umstände es gestatteten. Man sah die angespannten Tiere vor Ermattung sich auf den Schnee lagern und mit heißhungeriger Begierde schlechten Häcksel, Stroh, oder was sonst nur dem Futter ähnlich war, verschlingen. Die Führer hatten teils ein Obdach in den Hütten gesucht, teils sich an Feuern gelagert, wo nur irgend Raum war. Wenn sich dieses verworrene Knäuel erst zu lösen und in Bewegung zu setzen begann, wenn Wagen zusammenbrachen, Pferde stürzten, die engen Wege sich stopften, die Hast und Begierde, sich zu retten, die Besonnenheit raubte, und, wie es so oft auf diesem Rückzuge geschehen war, jeder dem nächsten, eigenen Vorteil das dauernde Wohl des Ganzen aufopferte – dann konnte hier, so glücklich sich die Umstände gestaltet hatten, das Unheil seinen Gipfel erreichen und sich an den Ufern dieses Stroms noch ein letztes fürchterliches Denkmal setzen. Diese Ahnungen Rasinskis trafen nur mit zu schreckenvoller Wahrheit ein.

Als er eben die Höhen wieder hinanritt, auf denen seine Leute gelagert waren, hörte er in der Ferne, von Borisow her, den dumpf hallenden Laut eines Kanonenschusses. Einige Augenblicke blieb es still, dann wiederholte sich der Schuß, und es begann ein regelmäßiges Feuer. »Hörst du, Boleslaw,« sprach er zu diesem, »dort unten schlägt man sich; wir wollen wünschen, daß das Ungewitter nicht heute noch heranziehe.«

Boleslaw horchte gespannt auf und erwiderte dann: »Ich weiß nicht, ob mich der Wind täuscht, aber dort hinüber glaube ich auch Kanonenschüsse zu hören. Jetzt eben wieder! Hörst du wohl? Nach der Richtung von Niamanitza.« Rasinskis Stirn umwölkte sich düster. »Sollte es doch beschlossen sein?« sprach er. »Drei russische Heere sind auf dem Punkte, sich zu vereinigen. Nur zwei Tage Aufschub!«

Indessen wurde das Schießen lebhafter; es mußten bedeutende Gefechte sich entsponnen haben. Wenn es den Russen gelang, das Korps des Marschalls Victor zu werfen, so drangen die Massen gewaltsam nach, und die Überreste des französischen Heers waren vernichtet. Das sah Rasinski unvermeidlich vor sich, und dieser Besorgnisse voll kehrte er zu den Seinigen zurück. Hier herrschte noch allgemeine Freude über den Abzug des Heers auf dem jenseitigen Ufer; zwar hatte man den fernen Donner der Kanonen ebenfalls vernommen, doch glaubte man die Gefahr nicht so nahe.

In der Tat verlor sich das Feuern wieder und gegen Mittag wurde alles still. Um ein Uhr kam endlich die Nachricht, daß eine der Brücken, die für die Infanterie bestimmte, vollendet sei, und die Brigade Legrand bereits unter den Augen des Kaisers mit ihrer Artillerie übergehe. Die zweite Brücke war der Vollendung nahe.

Schon entstand ein unruhiges Bewegen und Drängen unter den Massen, weil jeder zuerst das jenseitige Ufer zu erreichen wünschte; doch, noch war der Kaiser in Studianka und zu viele regelmäßige Truppen gegenwärtig, auch die Zahl der waffenlosen, ungeordneten Flüchtlinge noch nicht so angewachsen, daß ihr Strom alles mit sich fortgerissen hätte. Gegen den Nachmittag hörte man wieder Kanonendonner, und zwar näher und stärker als am Morgen. Das Gefecht wandte sich offenbar herwärts; es schien möglich, daß mit Anbruch der Nacht die Kolonnen bis Studianka zurückgeworfen sein konnten. Indessen sah man in zwei schwarzen Reihen die Artillerie und ihre Wagen sowie einige andere Truppenteile die Beresina passieren. Es schien alles so mit Ordnung herzugehen, daß man erwarten durfte, noch vor Mitternacht den größten Teil der Bagage, der Verwundeten und der Wagen überhaupt, für welche die eine Brücke aus- schließlich bestimmt war, am jenseitigen Ufer zu sehen.

Rasinski riet jetzt Bernhard an, sich mit dem Wagen Biankas nunmehr dem Zuge anzuschließen, damit er nicht in den Strudel der Verwirrung gerissen würde, wenn etwa neu herankommende Kolonnen oder gar der anrückende Feind eine größere Hast und Bestürzung erzeugen sollte. Mit bangen Gefühlen trenn- ten sich Bernhard und Ludwig von Rasinski; doch sie sahen ein, daß er mit den Seinigen vielleicht einer der letzten sein werde, ja sogar hier noch ins Gefecht kommen könne. Überdies hätte er doch auf der andern Brücke übergehen müssen, da den Wagen die obere ausschließlich angewiesen war. Sie nahmen daher, von unglücklichen Ahnungen bewegt, einen wehmütigen Abschied und begleiteten den wieder von Willhofen geführten Wagen hinunter nach Studianka. Jetzt brach die Dämmerung ein. Der Zug der Fuhrwerke rückte langsam vorwärts; gegen das Ufer hin glich er einer ungeheuern Wagenburg, bei der an Festhaltung der Reihe und Ordnung nicht mehr zu denken war; sondern wie jeder sich am besten aus dem verworrenen Knäuel loswickelte und die Brücke zuerst erreichte, ging er über.

Bianka warf ängstliche Blicke über dieses Getümmel von Rossen, Menschen, Wagen und Schlitten; ein dumpfes Brausen rufender und kreischender Stimmen, das von Minute zu Minute mit dem Dunkel der Nacht wuchs, erhöhte den beängstigenden Eindruck, den diese unermeßliche Verwirrung machen mußte. »O, wäret ihr jetzt nicht in meiner Nähe, ihr Geliebten,« sprach Bianka sanft zu Bernhard und Ludwig, indem sie beider Hände ergriff, »wie verlöre ich mich in diesem grauenden Gewühl! Aber so ist mein Herz ohne Sorge und ohne Furcht.«

Ludwig fühlte wohl, daß sie mit dieser scheinbaren Ruhe nur seine und des Bruders Besorgnisse um sie mildern wollte, wie es denn ihrer schönen Seele eigen war, stets zuerst den fremden Schmerz, die fremde Sorge zu fühlen und zu lindern. Er antwortete daher auch für sie tröstend und beschwichtigend und scherzte, um sie zu zerstreuen, mit dem Kinde, das, keine Gefahr ahnend, mit rührender Unschuld plauderte und schäkerte. Bernhard blickte indessen aufmerksam umher, um jeden Vorteil, der sich darböte, rasch wahrzunehmen. Ein unruhiges Murmeln zu seiner Linken bewirkte, daß er sich dorthin wandte. Eine Menge von Kriegern deutete auf die Schneehügel abwärts vom Flusse, und das Gemurmel, welches durch die Reihen lief, zeigte, daß ein Ereignis von Wichtigkeit ihre Aufmerksamkeit beschäftige. Anfangs konnte Bernhard nicht erraten, was es sein mochte; plötzlich aber entdeckte er einen rötlichen Schein über dem Schnee, der an Größe und Helle zu wachsen schien.

»Borisow steht in Flammen!« rief eine Stimme neben ihm; es war Willhofen. – »Glaubst du?« fragte Bernhard. – »Es kann kein anderer Ort sein; ich weiß, daß es gerade dort hinaus liegt.« Die Flammen schlugen höher auf, allgemach wurden alle, die an dem Ufer versammelt waren, die Erscheinung gewahr, und indem jeder seine Aufmerksamkeit darauf richtete, wurde das brausende Geräusch der Stimmen dadurch einige Augenblicke unterbrochen. In diesen vernahm man deutlich starken Kanonendonner von dorther. Es wurde also um Borisow, kaum zwei Stunden von Studianka, gefochten.

Noch in dieser Nacht kann der Feind anrücken. Diese Betrachtung schien sich in jeder Brust zugleich zu gestalten und plötzlich eine überstürzende Hast und Eile der Rettung auf das jenseitige Ufer zu erzeugen. Von drei Seiten zugleich wurden die Wagen heftig auf den engen Zugang der Brücke zugetrieben; sie fuhren gegeneinander an, daß die Räder und Achsen brachen, warfen um und stopften so die Bahn. Dies verursachte ein grimmiges Toben und Schreien von allen Seiten her. Mit Wut warfen sich die Nachfolgenden auf die, welche verunglückt waren und ihnen so den Weg der Rettung versperrten. Ohne Erbarmen rissen sie die Unglücklichen, welche auf den Wagen gesessen hatten, herab und zerschlugen die zerbrochenen Fahrzeuge in tausend Trümmer, um sich Bahn zu brechen. Doch, noch bevor ihnen dies völlig gelang, drängten schon wieder andere Wagen nach, die vordem jagten daher in wilder Eile über die Trümmer zerbrochener Räder und Gestelle hin der Brücke zu, verfuhren sich ebenfalls ineinander, brachen die Achsen, stürzten um und erneuerten so selbst das Schauspiel, das eben ihre Wut erregt hatte. Pferde und Menschen stürzten übereinander; fürchterliches Geschrei und Toben erscholl. Die Kavallerie sprengte dazwischen und suchte Ordnung zu erhalten, indem sie diejenigen mit Säbelhieben zurücktrieb, welche sich außerhalb der Reihen eindrängen wollten; allein kaum gelang ihr dies an der einen Seite, so hatte sich an der andern schon das dreifache Unheil ereignet. Verwundete gerieten unter die Räder der Wagen und erhoben ein durchdringendes Geschrei um Hilfe; doch es wurde übertäubt durch die Flüche und das wilde Rufen, womit diejenigen, die, dem Ziele nahe, nur noch einer letzten Anstrengung bedurften, um gesichert zu sein, ihre Gespanne antrieben.

»Heiliger Gott, was soll daraus werden!« rief Bianka erblassend und heftete, indem sie das ängstlich gewordene Kind fast bewußtlos an die Brust drückte, erstarrte Blicke auf das Gemälde des Grausens ringsumher. – »Sei ruhig, Teuere,« sprach Ludwig begütigend; »es ist nur der erste Augenblick des Schreckens, gewiß wird sich bald alles wieder beruhigen; denn jeder kann ja sehen, daß er auf diese Weise nur sein eigenes Verderben beschleunigt.« – »O, laß uns lieber zurück zu Rasinski,« bat sie sanft; »dieser entsetzlichen Rettung über die zermalmte Brust hilfloser Verwundeten entsage ich. Lieber erwarte ich den Tod durch die feindlichen Kugeln, als daß ich diesen blutigen Weg betrete.« – »Die Rückkehr ist unmöglich, Bianka«, entgegnete Ludwig, indem er seine Blicke ringsumher warf. »Siehe, mit welchen Massen von Wagen und Menschen diese Abhänge und alle herabführenden Wege bedeckt sind; man könnte sich leichter eine Bahn durch den Fels graben als durch dieses Gewühl dringen.«

Bernhard, der gleich Ludwig neben dem Wagen gestanden hatte, schwang sich auf die Achse des Hinterrades, um einen freiern Überblick zu haben. Ein unabsehbares, düsteres Gewimmel, welches sich, soweit man die Ufer verfolgen konnte, an ihren Krümmungen entlang und die beschneiten Anhöhen hinaufzog, bot sich seinem Auge dar. Durch die einbrechende Dämmerung erschien es noch unbestimmter und riesenhafter. »Hm!« murmelte er vor sich hin, »das Schwarze Meer mitten im Eismeer; und es fängt an die Wogen im Sturm zu erheben.«

Am äußersten Rande des Horizonts, wo Nacht und Ferne sich verschmolzen, glühte der düsterrote Widerschein des brennenden Borisow. Ein Nachtsturm fing an die Flügel zu erheben und brauste hohl mit eisigkaltem Hauch über die Fläche hin. Selbst dem felsenherzigen Bernhard erfüllte ein banger Schauer die Brust, und es ahnte ihm, hier werde sich alles Entsetzliche, was dieser Krieg geboren, zusammenhäufen und die frühern Schrecken riesenhaft überbieten. Für sich allein fühlte er Kraft, allem zu trotzen; doch, wenn er den Blick auf die Schwester warf, wenn er ihre Jugend, ihre Schönheit betrachtete, sich der Opfer erinnerte, die ihre reine Liebe ihm gebracht, und dann zurückschaute auf dieses Unergründlich tiefe Meer des Verderbens und des Entsetzens, das ringsumher die finstern Wogen erhob – dann mußte er einen ehernen Harnisch des gewaltsamen Wollens um seine Brust schmieden, damit sie nicht ermattet breche unter der Last ihrer Schmerzen.

Aus jungfräulicher Schüchternheit richtete Bianka ihr Vertrauen in diesen Drangsalen noch immer mehr zu dem Bruder als zu dem Geliebten; auch hielt sie ihn wegen seiner raschen Art zu handeln für entschlossener und umsichtiger in Gefahren als den ebenso männlich gefaßten, aber weichern Ludwig. Deshalb wandte sie auch jetzt ängstlich fragende Blicke zu ihm, die Rat und Trost suchten. Sie drangen in seine tiefste Brust; absichtlich aber richtete er kein Wort an sie, denn er war zu erschüttert, um dies nicht durch seine Stimme zu verraten; seine rauhe Larve aber, seinen stacheligen Panzer wilden Scherzes mochte er dieser Sanften gegenüber nicht anlegen, weil er wußte, daß sie sich daran verwundete.

Glücklicherweise hielt der Wagen, auf welchem sie sich befand, an einer Stelle, die nicht in die Fluten des strömenden Gedränges hineingerissen wurde, von welcher man daher, wenngleich es keinen Rückweg gab, doch wenigstens nicht gewaltsam in den alles verschlingenden Strudel getrieben werden konnte. Dies gereichte zwar zu Biankas eigenem Heil; doch da sie sich stets in fremder Seele fühlte, so litt sie desto unaussprechlicher bei dem Anblick des Jammers und Schreckens, den sie vor Augen hatte, ohne retten oder lindern zu können. In stummer Qual saß sie, wie ein Opferlamm, das unter dem geschwungenen Beil zittert, unbeweglich da und wandte das Auge auf das ängstlich gewordene Kind in ihrem Schoße; selbst zitternd, herzte sie es und suchte es zu beruhigen. Jeannette neben ihr war bleich wie eine Leiche; sie wagte keinen Laut zu sprechen, aber kalte Tränen der Angst rollten unaufhaltsam über ihre Wangen herab. Beiden Frauen gegenüber saßen zwei schwerverwundete Offiziere, die jedoch durch ein betäubendes Fieber, welches schwere Kopfwunden erzeugten, unempfindlich gegen die Schrecken um sie her gemacht wurden. Unter diesem Druck der Angst und schweren Sorgen schlichen die Minuten mit bleierner Langsamkeit dahin.


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